Fondateur M. L. Sonnemann. Paris, 29. Mai.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour.
Mein lieber Freund,
Ich war acht Tage in
Frankfurt; Krankheit meines
Onkels und
meiner
Mutter. Bei meiner
Rückkehr fand ich Deine Briefe. Mini
ster
sturz und Mini
ster-Kri
sis
geben Tau
senderlei zu thun. So komme ich er
st heut
dazu, Dir zu antworten.
Ich habe das Geld
sofort an
Albert übergeben. Es i
st blöd
sinnig: aber ich kam mir vor, als wenn ich einen Raub an
Dir beginge. Trotzdem geht Alles ehrlich zu. Aber das i
st mein Wahn, und noch heut
|i
st es mir unangenehm, davon zu
sprechen.
Albert bewährt
sich
sehr als mein Freund, folglich auch als Deiner. Gutes, feines,
an
schmiegendes, liebes Naturell! Wir machen große Schlachtpläne für Dich. Ich glaube,
er hat Dir darüber ge
schrieben. Vielleicht gelingt es gar, Dich aufführen zu la
ssen. Ich denke, im näch
sten Heft des »
Mercure« wird
Albert Dein »
Märchen« be
sprechen. Von den
zwei
Manuskripten,
insbe
sondere von der »
Überspannten
Person«
sind wir Alle hoch entzückt. Unter
schied zwi
schen Dir und
Lavedan und den
Lavedanisirenden Franzo
sen: In
Frankreich Gei
st, Oberflächlichkeit, Dekadenz-Koketterie. Bei
Dir: Na
|türlichkeit, Tiefe,
Sittlichkeit und Gesundheit (Thut Dir wahr
scheinlich
sehr weh?).
Geist Gei
st natürlich auch. Das
Rindvieh, das Dich in
der Ge
sell
schaft zum Dekadenten-Häuptling macht, hat uns eine vergnügte Viertel
stunde
bereitet.
Kenn
st Du Frau
Andreas-Sal Salome? Selt
same
Frau. Nicht
schön, ich weiß nicht einmal, ob
sympathi
sch, aber derzeit un
sere gute
Freundin. Intime
Freundin von
Nietzsche. Ge
schlechtslo
se
Freund
schaft, wie ich glaube. Hat vier Jahre lang mit ihm
gelebt und gearbeitet. Ungeheures Wi
ssen,
Philo|sophin vom Fach. Hat
ein merkwürdiges
Buch über
Nietzsche veröffentlicht. Specialität: Religions-Philosophie. Nun gut: Sie weilt
seit
einigen Wochen in
Paris, und
sie
schickt Dir die
sen Brief. Will
st Du ihr
antworten,
so thus durch mich.
Al
so es
wa wird in
Wien die
se neue
Revüe begründet. Bitte
schreib’ mir, was Du
davon weißt und glaub
st (Zukunft). Ich habe die Empfindung, daß man
sich bei die
ser
Gründung infam gegen mich benimmt.
Kanner – Du weißt, wie hoch ich
sein Talent
schätze, in welchem
|wahrhaft geniale Züge
sind – i
st der intime
Freund meines
Onkels und meiner Familie. Mit
mir
steht er
schlecht. Die
ser überlegen ge
scheite
Mensch begeht die Dummheit, mir die Jahre hindurch
nachzutragen, daß ich mich einmal in einem Ge
spräch
über ihm gegenüber ironi
sch-neckend über einige
seiner Artikel ausgedrückt,
die ich
stets ehrlich bewundert habe. Und nun: I
st es Haß? I
st es Neid? I
st es
Verachtung? – bei die
ser Neugründung ignorirt er mich voll
ständig. Es hätte
|sich unbedingt gehört, daß man mich aufforderte, von
Paris aus für das
Blatt thätig
zu
sein. Ich hätte es kaum je annehmen können, aber eine Einladung hätte erfolgen
mü
ssen. Statt de
ssen i
st
Bahr seit ge
stern in
Paris, um
Albert die
Pariser Vertretung zu übertragen. Ich
habe
selb
stver
ständlich
Albert zur Annahme gedrängt, da das in
seinem Intere
sse i
st
. Aber
die Kränkung i
st nichtsde
stoweniger
sehr bitter. Da
sieh
st Du einmal in einem
prakti
schen Falle, wie fal
sch Deine freund
schaftlichen An
sichten über meine Geltung
sind.
|Ich habe gethan, was ich thun konnte, um eine
Be
sprechung des »
Anatol« in der
Frkf. Ztg. durchzu
setzen.
V
orgebens der wahre Grund
sind gewi
sse
inne innere Vorgänge zwi
schen meinem
Onkel und mir, die ich Dir einmal mündlich
erklären werde. Hingegen habe ich eine
Besprechung für
Richard erwirkt. Nun haben aber die Referenten das Recht ungehindert
seiner
Meisungs-Äußerung bei uns, und das dumme
Frauenzimmer, das bei uns die deut
sche Literatur voranleitet,
hat
Richards B Buch ab
solut nicht
ver|standen. Dafür kann ich nichts, und ich kann es nur bedauern. Ich
habe das Ehrenwort meines
Onkels, daß Dein neuer Roman
be
sprochen wird,
sobald er in Buchform er
schienen i
st.
Wenn ich keinen schweren Krankheitsanfall bekomme, will ich von meinem
vierwöchentlichen Urlaub drei auf eine Reise verwenden. Ich habe keinen höheren
Wunsch, als diese drei Wochen mit Dir zu verbringen. Aber das muß im August sein.
Kannst du fort? Und wohin? Bitte, schreib’ mir bald darüber.
|Oh diese Hypochondrie in Deinem letzten Briefe!
Gewiß, es ist wünschenswerth frei zu sein. Aber ich habe oft über die Freiheit
nachgedacht, und ich fürchte beinahe, daß sie doch nicht das Gut ist, daß↓das↓ wir glauben. Man würde glücklich auf allen Seiten Wege vor sich sehen. Und
ich wenigstens gehöre nicht zu den Leuten, die rasch entschlossen einen von den
hundert Wegen einschlagen, sondern zu denen, die all’ ihr Leben lang damit vertändeln
würden, davor zu stehen |und zu überlegen: soll ich
dahin gehen oder dorthin? Und würde ich einen Weg wählen, welchen immer, so würde
mich bis an meinen Tod die Reue verfolgen, daß ich nicht den andern eingeschlagen.
Bist Du nicht auch ein wenig so? Gewiß, der Zwang ist drückend. Aber es hat auch sein
gutes: es erspart einem die Mühe der Wahl und die Verantwortung dafür. Der Zwang,
c’est une destinée toute faite. Und wenn er, wie bei Dir, nicht mit Infamie verbunden ist (wie
bei mir), so sollte man ihn |ruhig tragen, zumal
wenn man dabei auch noch graduieren kann. Wer weiß, ob nicht gerade in Deiner Abscheu
davor, ein ärztlicher ban Banause zu werden, ein
gutes Theil Deiner Productionskraft liegt. Und wer weiß, ob diese, die vielleicht zum
großen Theil eine Reaktionserscheinung ist, nicht sehr abnehmen würde, wenn auf der
andern Seite die Aktion des Zwanges aufhörte. Dabei fällt mir ein, daß es im Obigen
nicht Productions-Kraft heißen darf, sondern »Wille zur Produktion«. Auch sonst habe
ich es mir ganz |anders gedacht, als es da
ausgedrückt ist. Das macht aber nichts.
Die von Dir erwähnte
Erwiderung von
Christensen habe ich nirgends entdecken können. Könnte
st Du
mir nicht die Nummer oder nur die ungefähre Er
scheinungs-Zeit angeben?
Bitte, lies:
Bernard Lazare:
L’Antisémitisme. Soeben er
schienen bei
Léon Challey,
8. Rue Saint-Joseph. Der
Verfasser, in
un
serem Alter, i
st
selbst Jude.
Mein
Schwager i
st
hochbeglückt mit Deiner
Zeitschrift und dankt Dir noch vielmals.
Viele treue Grüße!
Dein
Paul Goldmann
Schreib’ bald!!