Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 29. 5. [1894]

Fondateur M. L. Sonnemann. Paris, 29. Mai.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour.
Bureaux à Paris:

Mein lieber Freund,

Ich war acht Tage in Frankfurt; Krankheit meines Onkels und meiner Mutter. Bei meiner Rückkehr fand ich Deine Briefe. Ministersturz und Minister-Krisis geben Tausenderlei zu thun. So komme ich erst heut dazu, Dir zu antworten.
Ich habe das Geld sofort an Albert übergeben. Es ist blödsinnig: aber ich kam mir vor, als wenn ich einen Raub an Dir beginge. Trotzdem geht Alles ehrlich zu. Aber das ist mein Wahn, und noch heut |ist es mir unangenehm, davon zu sprechen. Albert bewährt sich sehr als mein Freund, folglich auch als Deiner. Gutes, feines, anschmiegendes, liebes Naturell! Wir machen große Schlachtpläne für Dich. Ich glaube, er hat Dir darüber geschrieben. Vielleicht gelingt es gar, Dich aufführen zu lassen. Ich denke, im nächsten Heft des »Mercure« wird Albert Dein »Märchen« besprechen. Von den zwei Manuskripten, insbesondere von der »Überspannten Person« sind wir Alle hoch entzückt. Unterschied zwischen Dir und Lavedan und den Lavedanisirenden Franzosen: In Frankreich Geist, Oberflächlichkeit, Dekadenz-Koketterie. Bei Dir: Na|türlichkeit, Tiefe, Sittlichkeit und Gesundheit (Thut Dir wahrscheinlich sehr weh?). Geist natürlich auch. Das Rindvieh, das Dich in der Gesellschaft zum Dekadenten-Häuptling macht, hat uns eine vergnügte Viertelstunde bereitet.
Kennst Du Frau Andreas- Salome? Seltsame Frau. Nicht schön, ich weiß nicht einmal, ob sympathisch, aber derzeit unsere gute Freundin. Intime Freundin von Nietzsche. Geschlechtslose Freundschaft, wie ich glaube. Hat vier Jahre lang mit ihm gelebt und gearbeitet. Ungeheures Wissen, Philo|sophin vom Fach. Hat ein merkwürdiges Buch über Nietzsche veröffentlicht. Specialität: Religions-Philosophie. Nun gut: Sie weilt seit einigen Wochen in Paris, und sie schickt Dir diesen Brief. Willst Du ihr antworten, so thus durch mich.
Also es wird in Wien diese neue Revüe begründet. Bitte schreib’ mir, was Du davon weißt und glaubst (Zukunft). Ich habe die Empfindung, daß man sich bei dieser Gründung infam gegen mich benimmt. Kanner – Du weißt, wie hoch ich sein Talent schätze, in welchem |wahrhaft geniale Züge sind – ist der intime Freund meines Onkels und meiner Familie. Mit mir steht er schlecht. Dieser überlegen gescheite Mensch begeht die Dummheit, mir die Jahre hindurch nachzutragen, daß ich mich einmal in einem Gespräch ihm gegenüber ironisch-neckend über einige seiner Artikel ausgedrückt, die ich stets ehrlich bewundert habe. Und nun: Ist es Haß? Ist es Neid? Ist es Verachtung? – bei dieser Neugründung ignorirt er mich vollständig. Es hätte |sich unbedingt gehört, daß man mich aufforderte, von Paris aus für das Blatt thätig zu sein. Ich hätte es kaum je annehmen können, aber eine Einladung hätte erfolgen müssen. Statt dessen ist Bahr seit gestern in Paris, um Albert die Pariser Vertretung zu übertragen. Ich habe selbstverständlich Albert zur Annahme gedrängt, da das in seinem Interesse ist. Aber die Kränkung ist nichtsdestoweniger sehr bitter. Da siehst Du einmal in einem praktischen Falle, wie falsch Deine freundschaftlichen Ansichten über meine Geltung sind.
|Ich habe gethan, was ich thun konnte, um eine Besprechung des »Anatol« in der Frkf. Ztg. durchzusetzen. Vorgebens der wahre Grund sind gewisse innere Vorgänge zwischen meinem Onkel und mir, die ich Dir einmal mündlich erklären werde. Hingegen habe ich eine Besprechung für Richard erwirkt. Nun haben aber die Referenten das Recht ungehindert seiner Meisungs-Äußerung bei uns, und das dumme Frauenzimmer, das bei uns die deutsche Literatur voranleitet, hat Richards Buch absolut nicht ver|standen. Dafür kann ich nichts, und ich kann es nur bedauern. Ich habe das Ehrenwort meines Onkels, daß Dein neuer Roman besprochen wird, sobald er in Buchform erschienen ist.
Wenn ich keinen schweren Krankheitsanfall bekomme, will ich von meinem vierwöchentlichen Urlaub drei auf eine Reise verwenden. Ich habe keinen höheren Wunsch, als diese drei Wochen mit Dir zu verbringen. Aber das muß im Augussein. Kannst du fort? Und wohin? Bitte, schreib’ mir bald darüber.
|Oh diese Hypochondrie in Deinem letzten Briefe! Gewiß, es ist wünschenswerth frei zu sein. Aber ich habe oft über die Freiheit nachgedacht, und ich fürchte beinahe, daß sie doch nicht das Gut ist, das wir glauben. Man würde glücklich auf allen Seiten Wege vor sich sehen. Und ich wenigstens gehöre nicht zu den Leuten, die rasch entschlossen einen von den hundert Wegen einschlagen, sondern zu denen, die all’ ihr Leben lang damit vertändeln würden, davor zu stehen |und zu überlegen: soll ich dahin gehen oder dorthin? Und würde ich einen Weg wählen, welchen immer, so würde mich bis an meinen Tod die Reue verfolgen, daß ich nicht den andern eingeschlagen. Bist Du nicht auch ein wenig so? Gewiß, der Zwang ist drückend. Aber es hat auch sein gutes: es erspart einem die Mühe der Wahl und die Verantwortung dafür. Der Zwang, c’est une destinée toute faite. Und wenn er, wie bei Dir, nicht mit Infamie verbunden ist (wie bei mir), ssollte man ihn |ruhig tragen, zumal wenn man dabei auch noch graduieren kann. Wer weiß, ob nicht gerade in Deiner Abscheu davor, ein ärztlicher Banause zu werden, ein gutes Theil Deiner Productionskraft liegt. Und wer weiß, ob diese, die vielleicht zum großen Theil eine Reaktionserscheinung ist, nicht sehr abnehmen würde, wenn auf der andern Seite die Aktion des Zwanges aufhörte. Dabei fällt mir ein, daß es im Obigen nicht Productions-Kraft heißen darf, sondern »Wille zur Produktion«. Auch sonst habe ich es mir ganz |anders gedacht, als es da ausgedrückt ist. Das macht aber nichts.
Die von Dir erwähnte Erwiderung von Christensen habe ich nirgends entdecken können. Könntest Du mir nicht die Nummer oder nur die ungefähre Erscheinungs-Zeit angeben?
Und Richard? Und Loris?
Bitte, lies: Bernard Lazare: L’Antisémitisme. Soeben erschienen bei Léon Challey, 8. Rue Saint-Joseph. Der Verfasser, in unserem Alter, isselbst Jude.
Mein Schwager ist hochbeglückt mit Deiner Zeitschrift und dankt Dir noch vielmals.
Viele treue Grüße!
Dein
Paul Goldmann
Schreib’ bald!!
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