Diese Seite versammelt Auswertungen der Korrespondenz Arthur Schnitzlers mit Autorinnen und Autoren. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Beschränkungen der Aussagekraft, die die jeweiligen dargebotenen Visualisierungen mit sich bringen.
Zu Beginn ein Diagramm, das alle der über 3.600 edierten Korrespondenzstücke im Verlauf der Jahre zeigt:
Deutlich wird einerseits der schnelle Anstieg der beruflichen Korrespondenz um 1890. Schnitzler vernetzte sich hier innerhalb weniger Monate mit anderen Schriftstellern (und zu einem geringeren Teil auch mit Schriftstellerinnen). Andererseits lässt sich ein Abflauen der beruflichen Korrespondenz nach 1900 festmachen. Diese Entwicklungen korrelieren mit Lebensdekaden: Schnitzler wurde 1892 30 Jahre alt, 1902 bekam er einen Sohn und gründete eine Familie. 1912, als er seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, war er zwar am beruflichen Zenit, der briefliche Austausch mit Kolleginnen und Kollegen reduzierte sich jedoch. Die Betonung liegt hier auf der beruflichen Korrespondenz. Korrespondenzen mit anderen Personen werden in dem Diagramm nicht berücksichtigt. Es sagt demnach nichts darüber aus, ob Schnitzler um 1910 mehr mit anderen Menschen korrespondierte und sich also nur die Zahl der Korrespondentinnen und Korrespondenten erhöhte. Dennoch ließe sich anhand des Diagramms die These aufstellen, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch auf Schnitzlers Korrespondenzen wirkte. Schnitzler teilte die Kriegsbegeisterung nicht und enthielt sich öffentlichen Äußerungen. Möglicherweise dehnte sich diese Zurückhaltung auch auf den beruflichen und freundschaftlichen Umgang aus – auch hier könnte er sich für das Schweigen entschieden haben. Zuletzt sei erwähnt, dass Schnitzler am 27. Januar 1912 einen privaten Telefonanschluss bekam, mit dem er Anrufe tätigen (aber nicht empfangen) konnte. Dieses Ereignis könnte für das Abflauen der brieflichen Korrespondenz ebenso relevant sein.
Als nächstes ein Diagramm, das die in der vorliegenden Edition enthaltenen, mehr als 2.000 beruflichen Korrespondenzstücke an Schnitzler im Laufe der Jahre aufschlüsselt:
Erkennbar wird, dass alle Korrespondenzen, die früh begannen und anhielten, die Gemeinsamkeit besitzen, dass sie nach 1910 massiv zurückgehen. Für die späten Jahre fällt der Korrespondenz mit Robert Adam eine besondere Rolle zu: Sie ist die derzeit umfangreichste der Jahre 1915–1919. Adam war im Zivilberuf Richter, als Autor blieb er weitgehend erfolglos. Schnitzler nahm in seiner Korrespondenz mit Adam die Rolle eines Ratgebers ein, der sich auch an den Gesprächen über die Tätigkeit an den Gerichten interessiert haben dürfte. Zu keinem Zeitpunkt aber war es ein Austausch, bei dem Schnitzler sein eigenes Schaffen zur Diskussion stellte. Vor diesem Hintergrund könnte geschlossen werden, dass Schnitzler selbstsicherer in seiner Arbeit wurde und weniger Rat bei ›gleichrangigen‹ Kollegen (bewusst in rein männlicher Form) suchte.
Darüber hinaus lässt sich der Umfang der einzelnen beruflichen Korrespondenzen erahnen – auch wenn es sich nur um die Briefe an Schnitzler und nicht um die gesamte Korrespondenz handelt. Dieser Fokus auf die empfangenen Korrespondenzstücke ist tatsächlich aussagekräftiger als die Berücksichtung aller überlieferten Objekte. Schnitzler traf zwischen den Korrespondenzen höchstwahrscheinlich keine Unterscheidung und bemühte sich, zumindest wenn es sich um anhaltende schriftliche Dialoge handelte, alle an ihn gesandten Briefe aufzubewahren. Diese Indifferenz den unterschiedlichen Absenderinnen und Absendern gegenüber ermöglicht es, die Nachlassüberlieferung als Konstante zu begreifen, mithilfe derer schließlich alle Korrespondenzen vergleichbar werden. Gelegentlich lässt sich zwar das Fehlen einzelner Objekte, zumeist marginaler Natur wie Postkarten oder Telegramme, nachweisen. Geschätzt dürften die an Schnitzler adressierten Schreiben aber in einer umfangreicheren Korrespondenz zu 90%, in einer kleineren vollständig aufbewahrt sein. Für seine Briefpartnerinnen und Briefpartner kann das nicht immer behauptet werden. Eine Annäherung an die Anzahl der verlorenen Korrespondenzstücke kann ermittelt werden, wenn angenommen wird, dass jeder Brief eine Antwort bewirkte. Insgesamt würde also eine Doppelung der Briefe an Schnitzler ein historisch adäquates Diagramm liefern. Das sich über alle Telegramme, Briefe und Karten ergebende Verhältnis beträgt aktuell jedoch 1:2, heißt: für jeden Brief von Schnitzler sind zwei an ihn überliefert. Im Einzelfall ist das natürlich zu differenzieren. So sind etwa bei manchen kleineren Korrespondenzen alle Briefe überliefert. Auch Richard Beer-Hofmann hat die an ihn gesandten Briefe besser aufbewahrt als Schnitzler. Das mag damit zusammenhängen, dass Beer-Hofmann der notorisch faulste Briefschreiber war: Er schrieb nicht, sondern bewahrte auf.
Die fehlende Überlieferung von Korrespondenzstücken lässt sich teilweise mit einem mangelnden Nachlassbewusstsein erklären: Dass nur wenige Schriftstellerinnen einen umfangreichen Nachlass hinterlassen haben, liegt nicht daran, dass sie weniger produzierten. Sie hätten dafür ein Selbstverständnis pflegen müssen, das sich schwer mit der zurückhaltenden Rolle vertrug, die sie für ihre Teilnahme am Kulturbetrieb einnehmen mussten. Anders gesagt: Während für jemanden wie Schnitzler die Aufbewahrung persönlicher und beruflicher Papiere auch seinen Status als Schriftsteller legitimierte, wäre eine Frau, die einen vergleichbaren Nachlass aufgebaut und gepflegt hätte, wohl als eitel und prätentiös eingestuft worden. Was Schnitzler anbelangt, so diktierte er, wenn er formell blieb, in den letzten 25 Lebensjahren seiner Sekretärin die Briefe. Diese sind dann auch als Durchschläge im Nachlass Schnitzlers (in diesem Fall: im Deutschen Literaturarchiv Marbach) erhalten. Es dürften also mehr formelle als informelle, persönliche (mit der Hand geschriebene) Korrespondenzstücke überliefert sein. Auch diese mögliche Verzerrung müsste genauer untersucht werden.
Deutlich wird in Abbildung 2 jedenfalls, welche die ›großen‹ Korrespondenzen sind: jene mit Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Paul Goldmann, Hugo von Hofmannsthal und Felix Salten. Im direkten Vergleich gestalten sie sich wie folgt:
Bemerkbar ist, dass diese Korrespondenzen parallele Bewegungen durchzumachen scheinen. Die größten Schwankungen in den ersten Jahren weist die Korrespondenz mit Hofmannsthal auf, doch auch der Bruch mit Goldmann Ende 1910/Anfang 1911 führt nicht zu einem relevant abweichenden Verlauf.
Ein Punkt schränkt die Aussagekraft der letzten Abbildungen stark ein: Sie geben die Anzahl der Korrespondenzstücke, nicht aber deren Umfang wieder. Für jede hier edierte Korrespondenz mit Schnitzler kann dieses Detail einzeln in den Statistiken zu den Korrespondenzen studiert werden (siehe z. B. Richard Beer-Hofmann). Dass dieser Punkt relevant ist, wird beispielsweise daran erkennbar, dass von Hofmannsthal zwar mehr Korrespondenzstücke überliefert sind, sich die Textmenge aber mehr oder minder mit jener Schnitzlers deckt (vgl. die Statistik Hofmannsthal–Schnitzler).
Nun also ein Diagramm, das die edierten Korrespondenzen auf Basis des Umfangs der Korrespondenzstücke auswertet:
Auffallend ist sowohl hier als auch in Abbildung 2, dass die Korrespondenz mit Goldmann (rot) über weite Strecken die umfangreichste von Schnitzlers Lebens wäre, relativierte der Verlust der Gegenbriefe (Schnitzlers an Goldmann) nicht die statistische Auswertung. Besonders deutlich wird das im direkten Vergleich mit Schnitzlers Korrespondenz mit Hofmannsthal:
Für den überdurchschnittlichen Umfang der Korrespondenz mit Goldmann gibt es einen zentralen Grund: Goldmann lebte ab April 1891 nicht mehr in Wien, hatte also einen größeren Erklärungsbedarf als etwa Hofmannsthal, der in der selben Stadt wie Schnitzler wohnte und mit diesem vieles mündlich besprechen konnte. Daran anschließend könnte die These aufgestellt werden, dass Hofmannsthal in Schnitzlers Tagebuch häufiger erwähnt wird, weil sie sich öfter persönlich begegneten.
Dieses Diagramm zeigt nun die Erwähnungen Goldmanns und Hofmannsthals in Schnitzlers Tagebuch im Vergleich zur Anzahl der Korrespondenzstücke der beiden an Schnitzler:
Als erste Beobachtung lässt sich ganz allgemein (und wenig überraschend) feststellen, dass die Anzahl der Erwähnungen im Tagebuch und die Anzahl der Korrespondenzstücke weitgehend korrelieren. Während Goldmann nach seinen Verwerfungen mit Schnitzler zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend aus Tagebuch und Korrespondenz verschwindet, bleibt Hofmannsthal im Tagebuch durchweg stärker präsent. Auch die vorige Hypothese lässt sich verifizieren: Hofmannsthal wird im Tagebuch grundsätzlich häufiger als Goldmann erwähnt. Die beiden Faktoren Anzahl der Korrespondenzstücke an Schnitzler und Erwähnungen im Tagebuch stehen also in weitgehender Korrelation und erlauben Auskunft über den Fluss der sozialen Energie in Schnitzlers Beziehungen. Damit dürften aber auch schon die Grenzen der statistischen Auswertung erreicht sein. Ein abschließendes Urteil wäre durch Detailstudien möglich, bei der auch die Textinhalte berücksichtigt werden.
Einer Frage soll an dieser Stelle aber noch nachgegangen werden: Betreffen die bislang beschriebenen Phänomene ausschließlich Schnitzler oder lassen sie sich auch in größere Zusammenhänge betten? Dafür werden im Folgenden die überlieferten Korrespondenzstücke zwischen den vier heute am stärksten rezipierten Mitgliedern von Jung-Wien untersucht: Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann und Hugo von Hofmannsthal. Jede dieser Korrespondenzen ist publiziert (Beer-Hofmann mit Bahr, Hofmannsthal, Schnitzler; Schnitzler mit Hofmannsthal und Bahr usw.). Die einzige Ausnahme stellen die Briefe Bahrs an Beer-Hofmann dar. Diese Daten konnten mit dem Nachlass des letzteren ergänzt werden. Eine noch umfassendere Auswertung könnte unter Einbeziehung der Korrespondenzen mit Salten und Goldmann geschehen. Von diesen liegen jedoch nur die Korrespondenzen mit Schnitzler vollständig ediert vor.
Auch bei diesen insgesamt 2.538 Briefen ist ab 1890 ein starker Anstieg zu verzeichnen. Die Korrespondenz zwischen Hofmannsthal und Beer-Hofmann setzt Ende 1890/Anfang 1891 ein. 1891 sind auch die ersten Korrespondenzstücke zwischen Hofmannsthal und Schnitzler, Hofmannsthal und Bahr, Beer-Hofmann und Bahr, Schnitzler und Bahr sowie Schnitzler und Beer-Hofmann verzeichnet. Wenig überraschend korrelieren die Anfänge der Korrespondenzen mit der Herausbildung der Gruppe Jung-Wien und dem ersten Treffen des Vereins Jung-Wien am 17. 3. 1891 in der Wiener Weinhandlung Wieninger.
Die Korrespondenzen Hofmannsthal–Beer-Hofmann (232 Briefe), Hofmannsthal–Schnitzler (603 Briefe) und Schnitzler–Beer-Hofmann (818 Briefe) sind besonders zwischen 1892 und 1899 – und damit in der Hochphase Jung-Wiens – intensiv. Hofmannsthals Korrespondenz mit Bahr (441 Briefe) kommt zwar nicht an die Intensität der Korrespondenz Hofmannsthals mit Schnitzler heran, ist aber noch länger stärker, besonders auffällig in den Jahren 1901 und 1904. Ähnlich verhält sich die Korrespondenz Schnitzler–Bahr (359 Briefe): Sie ist zwar insgesamt weniger intensiv, hat aber ihre Höhepunkte nahezu zeitgleich mit der Korrespondenz Bahr–Hofmannstal in den Jahren 1901 und 1903. Auch die vom Umfang vergleichsweise geringe Korrespondenz Beer-Hofmanns mit Bahr (85 Briefe) erlebt nach ihrem ersten Höhepunkt 1894 erst um 1904 einen Aufschwung. Diese Intensivierung um 1903/1904 ist also spezifisch für die Korrespondenzen mit Bahr. Spezifische Gründe dafür können einerseits innerhalb der einzelnen Korrespondenzen ausgemacht werden. Andererseits ist diese Beobachtung ein Hinweis auf eine besonders aktive Phase Bahrs, die biografisch mit zwei schweren Erkrankungen zu den Jahreswechseln 1902/1903 und 1903/1904 zusammenfällt. Stark verkürzt könnte die Intensivierung der Korrespondenzen auf die Erzählung reduziert werden, dass Bahr stärkere Bindungen suchte, als er dem Tod nahe kam. Seine Bekanntschaft mit Anna von Mildenburg im Herbst 1904 löste dieses Bedürfnis. Sie wurde seine zweite Ehefrau und zentrale Gefährtin bis zu seinem Tod.
Die für Schnitzler getätigte Aussage, dass seine Korrespondenzen in Korrelation mit Lebensdekaden stehen, lässt sich an allen verglichenen Korrespondenzen feststellen und erweist sich damit zumindest als ein Zeitphänomen: Am Anfang des 20. Jahrhunderts vermindern sich alle Korrespondenzen in der Regel deutlich. Die Protagonisten zogen hier innerhalb weniger Monate aus dem Zentrum Wiens in die Peripherie – Beer-Hofmann und Hofmannsthal nach Rodaun, Bahr nach Ober-St.-Veit und Schnitzler und Salten nach Währing. Psychologisch könnte argumentiert werden, dass die neue räumliche Distanz anfänglich zu dem Versuch führte, zumindest schriftliche Nähe herzustellen. Doch selbst wenn die Aktivitität so gedeutet wird, ist klar: die räumliche Distanz und die epistolare gehen Hand in Hand.
Wie nah sich die Briefpartner jeweils waren, kann in der folgenden Grafik sowohl insgesamt als auch für die einzelnen Jahre studiert werden:
Alle Korrespondenzen zwischen den Jung-Wienern werden, wenn auch teilweise mehr pflichtbewusst und mit wenig Einsatz, bis zum Tod geführt: Hofmannsthal starb 1929, Schnitzler 1931. Bahr und Beer-Hofmann, die letzten beiden, die danach noch in Austausch hätten stehen können, hatten bereits 1925 das letzte Mal schriftlich miteinander kommuniziert. Jung-Wien lässt sich somit nicht nur als ein ästhetischer Zusammenhalt verstehen, sondern auch als ein persönlicher, der aber nur ein gutes Jahrzehnt wirklich eng war. Grundlegende kommunikative Schnittstelle der vier Autoren war über all die Jahre Schnitzler. Nur für einen vergleichbar kurzen Zeitraum bestand zwischen Bahr und Hofmannsthal ein quantitativ vergleichbarer Austausch.
August 2024