Schnitzlers Korrespondenz in Statistiken

Diese Seite versammelt Auswertungen der Korrespondenz Arthur Schnitzlers mit Autorinnen und Autoren. Dabei sollen ein besonderes Augenmerk auf die Unzulänglichkeiten der jeweiligen Darstellung gelegt und die sich erweisenden Probleme direkt anhand der jeweiligen Diagramme angesprochen werden.

Das folgende Diagramm zeigt alle edierten Korrespondenzstücke im Verlauf der Zeit:

Abb. 1: Alle edierten Korrespondenzstücke (Februar 2024)

Gut erkennbar ist der schnelle Anstieg der beruflichen Korrespondenzen um 1890, also wie innerhalb weniger Monate Schnitzler sich mit Schriftstellern (und zu einem geringeren Teil: Schriftstellerinnen) vernetzt. Auch das Abflauen nach 1900 lässt sich festmachen. Man könnte diese Befunde grob in Lebensdekaden einordnen: Schnitzler wurde 1892 30 Jahre alt, 1902 bekam er einen Sohn und gründete eine Familie; 1912, als er seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, war er am beruflichen Zenit – der briefliche Austausch mit Kolleginnen und Kollegen reduzierte sich in dieser Zeit jedoch. Das sagt aber nichts darüber aus, ob er zu diesem Zeitpunkt mehr mit anderen Menschen korrespondierte und sich also nur die Zahl der Korrespondentinnen und Korrespondenten erhöhte. Anhand des Diagramms ließe sich die These aufstellen, dass der Kriegsausbruch und Schnitzlers damit einhergehende Zurückhaltung (er teilte die Kriegsbegeisterung nicht, sondern enthielt sich öffentlichen Äußerungen) sich auch auf den beruflichen und freundschaftlichen Umgang ausdehnte und er sich auch hier für das Schweigen entschied. Auch der Umstand, dass er am 27. Januar 1912 einen privaten Telefonanschluss bekam, mit dem er Anrufe tätigen konnte (nicht aber empfangen), ließe sich als relevantes Ereignis festhalten.

Dieses Diagramm schlüsselt 45 berufliche Korrespondenzen Schnitzlers auf:

Abb. 2: Edierte Korrespondenzstücke an Schnitzler (Februar 2024)

Hier lässt sich der Umfang der einzelnen Korrespondenzen erahnen. Es ist zumindest deutlich, welche die ›großen‹ Korrespondenzen sind. Erkennbar ist außerdem, dass alle das Erwachsenenleben anhaltende Korrespondenzen die Gemeinsamkeit besitzen, dass sie nach 1910 massiv zurückgehen. Vielleicht kommt der Korrespondenz mit Robert Adam eine prototypische Rolle für die späten Jahre zu, da sie die derzeit umfangreichste der Jahre 1915–1919 darstellt. Adam war im Zivilberuf Richter und als Autor blieb er weitgehend erfolglos. Schnitzlers Rolle in der Korrespondenz war die eines Ratgebers, der sich auch an den Gesprächen über die Tätigkeit an den Gerichten interessiert haben dürfte. Zu keinem Zeitpunkt aber war es ein Austausch, bei dem Schnitzler sein eigenes Schaffen zur Diskussion stellte. Auf den Punkt gebracht: Der Abstieg in der Korrespondenz lässt sich so verstehen, dass Schnitzler selbstsicherer in seiner Arbeit wurde und weniger Rat suchte.

Zwei Schwierigkeiten schränken die Aussagekraft des Diagramms stark ein: Erstens gibt es die Anzahl der Korrespondenzstücke, nicht aber ihren Umfang wieder. Diese Unterscheidung kann für jede Korrespondenz einzeln in den Statistiken zu den Korrespondenzen studiert werden. Man beachte beispielsweise, dass von Hofmannsthal zwar mehr Korrespondenzstücke überliefert sind, sich die Textmenge aber mehr oder minder mit jener Schnitzlers deckt: zur Statistik Hofmannsthal–Schnitzler. Zweitens ist vor allem der Umstand problematisch, dass die Gesamtanzahl der Korrespondenzstücke berücksichtigt wird. Auf Erfahrung aufbauend kann die Hypothese gebildet werden, dass Schnitzler zwischen den Korrespondenzen keine Unterscheidung traf und sich bemühte, alle an ihn gesandten Briefe aufzubewahren, zumindest wenn es sich um fortgeführte schriftliche Dialoge handelte. Deshalb ist es aussagekräftiger, sich nur auf die erhaltenen Korrespondenzstücke im Nachlass Schnitzlers zu konzentrieren. Damit lassen sich auch stichhaltigere Aussagen über die Intensität eines Austausches treffen.

Hier nun ein Diagramm, das nur die Korrespondenzstücke an Schnitzler, nach Korrespondenzen gruppiert, auswertet:

Abb. 3: Paul Goldmann und Hugo von Hofmannsthal an Schnitzler, Zeichenanzahl

In den Abbildungen 2 und 3 fällt auf, dass die Korrespondenz Goldmanns (rot) – vor allem im Vergleich zu jener mit Hofmannsthal (himmelblau) – über weite Strecken die umfangreichste seines Lebens wäre, dass aber der Verlust der Gegenbriefe Schnitzlers in der statistischen Auswertung relativierend wirkt. Ausgewertet auf die Textmenge ist das noch einmal deutlicher:

Abb. 4: Alle edierten Korrespondenzstücke nach Textlänge (Februar 2024)

Für den überdurchschnittlichen Umfang der Korrespondenz mit Goldmann gibt es einen zentralen Grund: Goldmann lebte ab April 1891 nicht mehr in Wien, hatte also einen größeren Erklärungsbedarf als etwa Hofmannsthal, der in der gleichen Stadt wie Schnitzler wohnte und mit diesem vieles mündlich besprechen konnte. In einem nächsten Schritt könnten die Erwähnungen im Tagebuch Schnitzlers berücksichtigt werden. Die Hypothese lautet, dass Hofmannsthal im Tagebuch häufiger als Goldmann erwähnt wird, weil sie sich öfter persönlich begegneten.

Dieses Diagramm zeigt die Erwähnungen Goldmanns und Hofmannsthals in Schnitzlers Tagebuch und die Anzahl der Korrespondenzstücke der beiden an Schnitzler:

Abb. 5: Vergleich der fünf umfangreichsten Korrespondenzen

Als erste Beobachtung lässt sich ganz allgemein (und wenig überraschend) feststellen, dass die Anzahl der Erwähnungen im Tagebuch und die Anzahl der Korrespondenzstücke weitgehend korrelieren. Während Goldmann nach seinen Verwerfungen mit Schnitzler gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend aus Tagebuch und Korrespondenz verschwindet, bleibt Hofmannsthal im Tagebuch durchweg stärker präsent. Auch die Hypothese über den Aufenthaltsort lässt sich verifizieren: Hofmannsthal wird im Tagebuch grundsätzlich häufiger als Goldmann erwähnt. Die beiden Faktoren Anzahl der Korrespondenzstücke an Schnitzler und Erwähnungen im Tagebuch stehen also in weitgehender Korrelation und erlauben Auskunft über den Fluss der sozialen Energie in Schnitzlers Beziehungen. Damit dürften aber auch schon die Grenzen der statistischen Auswertung erreicht sein. Ein abschließendes Urteil wäre nur durch Detailstudien möglich, bei der auch die Textinhalte berücksichtigt werden.

Zurück zur Gesamtheit der edierten Korrespondenzstücke. Als Daumenregel kann angenommen werden, dass jedes Korrespondenzstück eine Antwort bewirkt und insgesamt also eine Doppelung der Briefe in eine Richtung ein historisch adäquates Diagramm liefern würde. Das sich über alle Telegramme, Briefe und Karten ergebende Verhältnis beträgt 1:2, das heißt: für jeden Brief von Schnitzler sind zwei an ihn überliefert. Im Einzelfall ist das natürlich zu differenzieren. So hat Richard Beer-Hofmann die an ihn gesandten Briefe besser aufbewahrt als Schnitzler. (Es mag damit in Zusammenhang stehen, dass er auch der notorisch faulste Briefschreiber war: Er schrieb nicht, sondern bewahrte auf. Die häufig in den Briefen vorhandene Klage seiner Freunde, Beer-Hofmann möge zum Schreiben aufgefordert werden, schränkt auch die oben angeführte Daumenregel ein, dass für jeden Brief ein Gegenbrief vorhanden sein müsste – mit Ausnahme von Beer-Hofmann.)

Die fehlende Überlieferung von Korrespondenzstücken lässt sich mit dem Nachlassbewusstsein erklären: Dass beispielsweise nur wenige Schriftstellerinnen einen umfangreichen Nachlass hinterließen, liegt nicht daran, dass sie weniger produzierten. Es wäre dafür ein Ego notwendig gewesen, das sich schwer mit der zurückhaltenden Rolle vertrug, die Schriftstellerinnen für ihre Teilnahme am Kulturbetrieb einnehmen mussten. Was Schnitzler anbelangt, so diktierte er, wenn er formell blieb, in den letzten 25 Lebensjahren seiner Sekretärin die Briefe. Diese sind dann auch als Durchschläge im Nachlass Schnitzlers (in diesem Fall: im Deutschen Literaturarchiv Marbach) erhalten. Es dürften also mehr formelle als informelle, persönliche (mit der Hand geschriebene) Korrespondenzstücke überliefert sein. Auch diese mögliche Verzerrung müsste aber genauer untersucht werden.

Nun noch zu einer anderen Betrachtung, die der Ausgangspunkt für eine statistische Untersuchung von Jung-Wien werden kann. Konzentriert man sich auf die fünf umfangreichsten hier edierten Korrespondenzen und berücksichtigt die Korrespondenzstücke pro Jahr, dann sieht das Diagramm so aus:

Abb. 6: Erwähnungen im Tagebuch und Anzahl der Korrespondenzstücke an Schnitzler von Goldmann und Hofmannsthal

Die umfangreichen, das ganze Berufsleben Schnitzlers als Schriftsteller umfassenden Korrespondenzen scheinen durchweg parallele Bewegungen durchzumachen. Die Korrespondenz mit Hofmannsthal weist (zumindest in den ersten Jahren) die größten Schwankungen auf, doch auch der Bruch mit Goldmann führt nicht zu einem relevant abweichenden Verlauf.

(Ende. Fortsetzung mit einer Untersuchung der Textsorten und der Korrespondenzen Jung-Wiens demnächst.)