Arthur Schnitzler an Paul Goldmann, 1. 2. 1911

|1. 2. 1911.
Gewiss, lieber Freund, schon in Deinen Briefen hattest Du allerlei Bedenken gegen die »Beatrice« ausgesprochen; und in Deinem Feuilleton über dasselbe Stück war manches Lob enthalten. Nichtsdestoweniger wird jeder objektiv Urteilende von Deinen Briefen über die »Beatrice« den Eindruck empfangen: Freudige Begrüssung des Werks nicht ohne Einwendungen; – von Deinem Feuilleton: Ablehnung mit Zibeben; – so verschieden ist der Grundton Deiner Privatäusserungen gegenüber dem Deines Zeitungsartikels. Wenn ich also schon keinen Grund sehe, dass Dich die Lektüre der Briefkopien vor Erstaunen starr gemacht hat, so begreife ich noch weniger Deine Behauptung, dass die Briefkopien von mir als Dokumente gegen Deine Ehre gedacht waren. Sie waren und sind nichts anderes als Beweise, dass Deine Ansichten über ein Stück im Laufe von zwei Jahren erheblich gewechselt haben; und als solche bleiben sie bestehen.
Zu dem Fall der »Lebendigen Stunden« übergehend möchte ich vor allem erklären, dass ich die Dir ge|sprächsweise zugeschriebene Aeusserung: »Du möchtest Dich erschiessen, weil Du so etwas nicht leisten könntest«, in diesem Wortlaut nicht aufrecht zu erhalten vermag; dass hier möglicherweise eine Erinnerungstäuschung meinerseits vorliegt und Du Dich wirklich nicht – um Dein Wort zu gebrauchen – mit so »weibischem Schwulst« ausgedrückt hast – eine Bemerkung übrigens, durch die sich im weitesten Umkreis niemand getroffen fühlt. Es ist ferner festzustellen, dass Du tatsächlich schon nach jener Vorlesung im Walde (wie auch in unserem letzten Gespräch ausdrücklich vermerkt wurde) gewisse Einwendungen erhoben hast; – sie richteten sich ausschliesslich gegen die »Literatur«, also gegen dasjenige Stück, das Du als einziges von den vieren nach der Aufführung hast gelten lassen. (»Die letzten Masken«, die Du erst von der Bühne herab kennen lerntest, fallen aus dem Bereich dieser Erörterungen). »Lebendige Stunden« und »Die Frau mit dem Dolch«, besonders letztere erkanntest Du nach jener Vorlesung im Walde rückhaltlos ja enthusiastisch an und liessest sie fallen, sobald sie auf der Bühne erschienen waren. Deine Bemerkung, dass der geringe Erfolg der vier Stücke Dein in der Zeitung ausgespro|chenes Urteil bestätige, ist aus mannigfachen Gründen nicht ernst zu nehmen. In dem Bühnenschicksal eines Stückes kann der Kritiker niemals die Bestätigung und niemals die Widerlegung seiner Ansichten (höchstens einer Vorhersage) ausgedrückt sehen; es sei denn, dass er sich bedingungslos mit dem Publikum solidarisch erklärte. Das aber ist bei Dir gewiss nicht der Fall; denn Du hast Dich (mit vollem Recht) noch nie darum für geschlagen erachtet, weil ein von Dir verworfenes Stück dem Publikum behagt und eine lange Reihe von Aufführungen erlebt hat. Also selbst wenn die »Lebendigen Stunden« missfallen und sich nicht auf der Bühne erhalten hätten, wäre damit keineswege die Treffsicherheit Deiner Zeitungskritik erwiesen. Nun kommt aber noch dazu, dass Deine Behauptung von dem geringen Erfolg der vier Einakter den Tatsachen durchaus widerspricht. Nicht als Beweis für die Vortrefflichheit der Stücke, sondern eben nur als Tatsache führe ich an, dass die »Lebendigen Stunden« nach der »Liebelei« bisher meinen stärksten Theatererfolg bedeutet haben. So ist bei Brahm der ganze Zyklus über vierzig Mal aufgeführt worden. »Letzte Masken« und »Literatur« |im Zyklus am Münchner Residenztheater oft gespielt, habe ich neulich anlässlich ihrer 16. Aufführung im Schauspielhaus derselben Stadt bei total ausverkauftem Hause zu sehen Gelegenheit gehabt. »Die Frau mit dem Dolch« brachte mir erst kürzlich aus Schweden Tantiemen. »Die letzten Masken« wurden in England und in Italien gegeben und »Literatur« hat schon eine kleine Reise um die Welt gemacht.
Wenn Du es weiters als eine Lächerlichheit erklärst »gegen das öffentlich abgegebene Urteil eines Kritikers, das er genau und sachlich begründet habe, Aeusserungen ausspielen zu wollen, die er nach einer Vorlesung im Walde getan«, so dürfte ich Dir mit demselben Recht entgegnen, es sei lächerlich ein gedrucktes, für die Oeffentlichkeit bestimmtes Feuilleton gegen die rückhaltlos anerkennenden Worte auszuspielen, die man sechs Monate vorher als Freund zum Freunde gesprochen. Ob aber Aeusserungen in einem Walde oder in einem geschlossenen Raum gefallen sind, das kann wohl für deren Wertung unter ernsthaften Leuten nicht in Betracht kommen.
Nun könnte Einer, der nur Deinen Brief und nicht |auch meine Erwiderung zu lesen bekäme, leicht zu der irrigen Meinung verleitet werden als hätte ich jemals gewünscht oder gar von Dir verlangt, dass Du über meine Werke keine abfälligen Kritiken veröffentlichen oder dass Du solche wenigstens nicht in Deine Bücher aufnehmen solltest. Dass mir dies jederzeit so ferne lag wie nur möglich sei hier nur der Vollständigkeit wegen ausgesprochen. Du selbst hast allerdings nun schon wiederholt den Wunsch geäußert über mich nicht mehr schreiben zu müssen. Da dieser Wunsch entweder Deiner Meinung entspringt, ich würde niemals etwas Deinem Geschmack nach Gutes zu produzieren imstande sein oder Deinem Gefühl, Du würdest niemals zu einer meiner Arbeiten ein Verhältnis finden können, so schiene es mir ja allerdings angemessen, dass Du Dich Deiner Verpflichtung über mich zu schreiben auf eine Weise zu entledigen suchtest. Doch das ist eine Sache, die Du mit Dir selber auszumachen hast. Was ich konstatieren wollte ist einfach, dass Deine kritischen Ueberzeugungen nicht sonderlich stark fundiert sind, dass in den zur Diskussion stehenden Fällen jedesmal das Publikum es war und nicht ich, das von Deinen beiden Urteilen das ungünstigere zu hören resp. zu lesen bekam, und ich füge |heute noch hinzu, dass es sich beide Male, ganz besonders im Fall der »Lebendigen Stunden«, nicht um Differenzen der Ausdrucksnuance, wie Du es nun darstellen möchtest, sondern um solche des Grundtons gehandelt hat.
Warum Du Dich gegen diese Feststellung so heftig zur Wehre setzst, ist umso unverständlicher als Du ja selbst noch vor Nachprüfung Deiner Briefkopien und Deines Feuilletons das Bestehen solcher Widersprüche zwischen Deinen privaten und öffentlichen Aeusserungen ohneweiters zugabst und um Erklärungen dafür keineswegs verlegen warst. Du sprachst die Meinung aus, dass man im privaten Verkehr einem Freunde nicht gern wehe tun wolle und daher zuweilen Rücksichten nehme, die man bei Besprechung seiner Leistungen vor der Oeffentlichkeit ausser Acht lassen könne, ja sogar müsse. Du gabst ferner zu, dass die Aufführung eines Werkes Dich manchmal Schwächen erkennen liesse (warum niemals Vorzüge?), die Dir bei Lektüre oder Vorlesung desselben Werkes nicht aufgefallen wären. Ob diese Erklärungsversuche nun stimmen oder nicht, mir sind und bleiben sie Beweise, dass wir sowohl über das Wesen freundschaftlicher Beziehungen als über die Vorbedingungen eines kritischen Richteramts recht verschieden denken. |Meine Ansicht geht dahin, dass man einem Freund in Privatverkehr seine Meinung mindestens so aufrichtig zu sagen habe als in einem Feuilleton und dass ein Rezensent – besonders einer, der sich nebstbei auch zum Theaterdirektor berufen fühlt – sich von dem Wesen eines Theaterstücks, von dessen innerem Wert, nicht von dessen Erfolgschancen meine ich, auch schon aus dem Buch eine bestimmte Vorstellung müsse bilden können. Habe ich in unserem letzten Gespräch diese Ansichten dahin formuliert, dass Du gerade durch Deine Erklärungsversuche sowohl als Freund wie als Kritiker Selbstmord begangen hättest, so war dies möglicherweise etwas zu temperamentvoll vorgebracht, immerhin aber in harmloseren Ton gehalten als Deine briefliche Replik, in der Du mir – wörtlich – vorwirfst, ich sei über Dich hergefallen wie über einen charakterlosen Lumpen und mir mitteilst, dass Du an diese Unterredung mit einer Mischung von Scham, Widerwillen und Empörung zurückdenkst. Ohne die subjektive Echtheit Deiner Empfindung anzweifeln zu wollen, stelle ich es Dir anheim, ob Du Deine Ausdrucksweise als männlichen, weiblichen oder sächlichen Schwulst bezeichnen willst.
|Dass dieses Gespräch im Hause meiner Mutter stattfand, worauf Du besonderes Gewicht zu legen scheinst, ist für meine Auffassung so belanglos als es in jenem früheren Fall die Welsberger Waldlandschaft gewesen ist. Und wenn ich mir die ruhige, fast herzliche Art in Erinnerung zurückrufe, in der wir uns im Vorzimmer meiner Mutter von einander verabschiedet haben, so scheint mir Deine Betonung des verletzten Gastrechtes viel eher feuilletonistisch-polemischen Erwägungen ihre Entstehung zu verdanken als spontaner Ueberzeugung. Jedenfalls aber möchte ich nochwals bemerken, dass jene oben zitierten Versuche die Widersprüche zwischen Deinen privaten und öffentlichen Aeusserungen aufzuklären von Dir herrühren und nicht von mir und überdies betonen, dass ich selbst den Grund dieser Widersprüche stets viel weniger in etwaigen Mängel Deines menschlichen Wesens als in solchen Deiner kritischen Begabung erblickt habe. Es ist mir nicht unangenehm, dass ich bescheidenen Zweifeln in dieser Richtung schon vor vielen Jahren, lang ehe Du zu öffentlichen Aeusserungen über mich Gelegenheit hattest aus Anlass eines Deiner ersten Hauptmannfeuilletons brieflichen Ausdruck gab. Und so darf mir wohl ge|stattet sein, freilich nicht aus diesem Grunde allein, Deinen Versuch, mich als einen »durch Grössengefühl und Selbstgefällikeit jeden Urteils beraubten Autor« hinzustellen, mit jener Gleichgültigkeit aufzunehmen, die mir so bedenklicher Polemik gegenüber am Platze scheint. Doch möchte ich in diesem Zusammenhang, wie gleichfalls schon mündlich geschehen, betonen, dass ich Deiner öffentlichen kritischen Tätigkeit wie der Durchschnittskritik überhaupt, keineswegs jene Wichtigkeit beimesse, die die Ausführlichheit dieses Schreibens Uneingeweihte könnte vermuten lassen. Was Du auf journalistischem Gebiete insbesondere als politischer Korrespondent und Reiseschilderer geleistet hast, soll nach wie vor anerkannt werden, was Du als Kritiker zu wirken vermochtest sei hier in kurzen Worten zusammengefasst: Es ist Dir manchmal gelungen einem Autor auf ein paar Stunden die Stimmung zu verderben; ferner mag es manchmal vorgekommen sein, dass Deine Feuilletons, dadurch, dass sie in einem weit verbreiteten Blatt erschienen sind, manchen Stücken höheren Ranges in Wien ein ungünstiges Vorurteil bereitet und sie dadurch geschäftlich geschädigt haben. Aber |damit sind die Grenzen Deines Einflusses aufs Weiteste umrissen. Unbeirrt geht die deutsche Literatur ihren Weg, die Dichter schreiben nach wie vor was sie wollen und nicht was Dir manchmal beliebt ihnen vorzuschlagen. An den Urteilen selbständig denkender Leute hast Du niemals das Geringste zu ändern vermocht; – wenn Du also auch ein oder das andere Mal im Einzelnen das Richtige zu treffen, öfter noch irrtümliche und voreingenommene Ansichten mit Witz und Geschicklichkeit zur Geltung zu bringen imstande warst – Dein Gesamtwirken hat bisher niemanden dauernd geschadet als Dir selbst, dessen Bild schon heute eines Ehrenplatzes in der Galerie jener berühmten Missversteher gewiss ist, die zu jeder Zeit die Schaffensfreude gerade der Besten mit ihrem respekt- u ahnungslosen Geschwätz begleitet haben. Schade. Denn einmal sah es aus, wie wenn Du im Geistesleben unserer Zeit zu anderem berufen wärest, als dazu der Kunst mit jener Fremdheit, ja mit jenem halb unbewussten Groll gegenüberzustehen, zu dem der unproduktive Mensch (nicht der Kritiker sage ich, denn es gibt auch produktive Kritik) dem produktiven Menschen gegenüber nun einmal verdammt zu |sein scheint.
Du magst es Dir weiter in dem Wahne wohl sein lassen, dass aus all dem, was ich hier gesagt habe, am Ende doch nichts anderes spräche als die verletzte Empfindlichkeit des getadelten oder des nicht genügend gelobten dramatischen Autors. So frei ich mich von solcher Empfindlichkeit weiss, ganz besonders Dir gegenüber, so lässt sich hier eine allgemeinere, gewissermassen abschliessende Bemerkung, nicht wohl vermeiden. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir mit der Mehrzahl der Menschen ganz ungestört weiter verkehren können und dürfen, auch dann, wenn wir uns genötigt sehen, ihre beruflichen Leistungen gering zu schätzen. Ein Schuhfabrikant, auch wenn er das miserabelste Zeug liefert (besonders, wenn Du Deine Stiefel anderswo beziehst), ein schlechter Jurist, ein untüchtiger Arzt, ein mässiger Klavierspieler und selbst ein Schriftsteller, der ohne innere Beteiligung, vielleicht fürs tägliche Brot und nur dafür seine sogenannten Novellen und Stücke verfasst – sie alle können Deinem Herzen nahe bleiben, wenn sie nur sonst redliche, nette und verträgliche Leute vorstellen. Der Einzige, mit dem es Dir nicht gelingen wird innere |Beziehungen aufrecht zu erhalten, wenn Du sein Wirken missbilligst, ist der Dichter. Es wird Dir umso weniger gelingen je öfter Du dich gedrungen fühlst nicht nur die eine oder andere seiner Leistungen, sondern das Wesentliche seiner Produktion und überdies die ganze Richtung, der er als einer der bekanntesten Vertreter angehört, als eine unfruchtbare verderbliche und im Niedergang befindliche abzulehnen. Denn der Beruf des Dichters stellt ja nicht wie der so vieler anderer Leute eine zufällige Lebensäusserung dar, die am Ende auch gegen eine andere vertauscht werden könnte, nein, sein Beruf ist – je ehrlicher er es mit seiner Kunst meint umsomehr – der tiefste Ausdruck seines Wesens, ja seine Seele selbst. Und wer sich von dem Gesammt-Werk eines Dichters ohne Anteil abkehrt oder es gar verdammt, der hat damit auch seiner Person den Rücken gewendet. Und da ich nun einmal zu der Art von Dichtern gehöre, die durchaus aus ihrer Persönlichkeit heraus schaffen und Du dem, was ich schaffe, wenigstens seit geraumer Zeit so gegenüberstehst, wie wir ja wissen, so ist es nur natürlich und konnte gar nicht anders kommen, als dass zwichen Dir und mir allmählich |jene Entfremdung eintreten musste, deren wir uns ja längst bewusst sind und kein vernünftiger Mensch wird Deiner Behauptung widersprechen, dass Deine und meine Entwicklung seit lange eine gänzlich verschiedene Richtung eingeschlagen haben. Es frägt sich eben nur, welche von diesen Richtungen am Ende zu einem besseren Ziele führt und das werden Andere zu entscheiden haben als Du und ich.
[handschriftlich:] Mit bestem Gruß
Dein
A. S.
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