Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 2. [1.? 1897]

Fondateur M. L. Sonnemann.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour. Paris, 2. December.
Bureau à Paris

Mein lieber Freund,

Ich wünsche Dir von Herzen ein glückliches neues Jahr. Im alten Jahr waren die Tage, die ich mit Dir verlebt, für mich wohl das Beste. Ich danke Dir vielmals für alle Deine Treue und Güte. . . . . . . 
Sehr habe ich mich mit Deinem lieben ausführlichen Briefe gefreut. Er hätte gleich beantwortet werden sollen. In jenen Tagen hatte ich keine Zeit dazu, und dann kam ein schrecklicher Zusammenbruch: neue Erscheinungen der gewissen Krankheit, Verschlimmerung des Augenübels, eine vom Arzt constatirte unheilbare Mydriase, |mit Möglichkeit der Verschlimmerung, vielleicht gar des Sehverlustes. Was soll ich das Alles aufzählen? Seitdem habe ich nicht mehr die Kraft, irgend etwas zu thun. Ich gehe nirgends hin, weise alle Besuche ab, bleibe bis Mittag im Bett liegen und denke nur über das Sterben nach. In den Schmerz mischt sich die Reue, in die Todes- und Selbstmord-Gedanken die Sehnsucht nach dem Leben, nach dem ich heißer begehre als je. Das sind schlimme Tage, und Du begreifst, daß Dein Brief unbeantwortet bleiben mußte. Nun möchte ich Dir aber trotzdem sagen, daß ich oft an Dich denke, und so raffe ich mich auf und schreibe Dir doch. . . . . . 
|Vor einiger Zeit war ich bei Thorel. Durch die Directons-Krisis im »Odéon« und den Weggang Antoines ist eine unserer Combinationen gestört worden. Thorel hat dem übrigbleibenden Director Ginisty zwar das Stück überreicht; aber das ist ein Flachkopf, und er wird es kaum acceptiren. Ein anderes Manuskript ist zur Zeit bei Carré, dem Director des »Vaudeville«. Thorel  wird auf dieser Seite mit allen Mitteln arbeiten. Freunde Carrés sollen in Bewegung gesetzt werden, Pierre Loti, Thorels intimer Freundsoll auch ein Wort mitreden. In den nächsten Wochen werden wir Bericht über das Ergebniß erhalten.
Du findest in diesem Briefe 1.) eine Besprechung der »Liebelei« |im »Rotterdamsche Courant«, die mir der hiesige Correspondent des Blattes, ein guter Freund von mir, übergeben hat, um sie an Dich zu befördern. 2.) Einen Brief von Brandes an mich 3.) Einen Brief von Nansen an mich. Beide Briefe bitte ich Dich, mir zurückzusenden. Beide Briefe hätte ich Dir schon längssenden sollen, aber ich wollte sie erst beantworten. Beide Briefe geben auch Dir wohl Anlaß zu einer Antwort an die Absender.
Die Kritik in »Cosmopolis« hat mich riesig gefreut. Faguet ist, wie Du wohl weißt, der Nachfolger von Jules Lemaître als Theater-Kritiker im »Journal des Débats« und einer der größten Literatur-Bonzen von Paris.
|Die Aufnahme der Lausbüberei des Kraus in die Frankf. Zeit. hat mich bitter gekränkt. Ich habe mich sofort bei meinem Onkel beschwert. Dieser ist vollständig bona fide, hat keine Ahnung gehabt, um wen es sich handelt, und hat die Sache, wie er mir mittheilt, nur aufgenommen, weil er sie »vorzüglich geschrieben fand«. Ich vermuthe, daß meines Onkels Frau dahintersteckt; sie dürfte das neue Genie Kraus entdeckt haben, das sieht ihr schon ähnlich; und mein Onkel sieht in diesen Fällen nur mit |ihren Augen. Oder auch ist die Sache via Altenberg gekommen, mit welchem die große Kritikerin im Briefwechsel steht, seit sie ihn als Dichter gekrönt hat. Ich bin machtlos gegen solche Dinge, kann nur hinterher wüthend sein und kann nicht einmal einer Wiederholung vorbeugen. . . . 
Mit großer Theilnahme habe ich die Skizze von Deinem Tagewerk gelesen, die Du mir entworfen hast. Daß auch Du von körperlichen Leiden geplagt bist, ist recht garstig. Soviel ich von Medicin verstehe, will mir freilich ein Ohren-Katarrh nicht schlimm erscheinen. Wer weiß, ob Du ihn überhaupt entdeckt hättest, |wenn Du nicht Arzt wärest? Wie gern möchte ich ihn noch zu alle dem dazu nehmen, was ich habe! Auf einen Ohren-Katarrh mehr oder weniger käme es mir, weiß Gott, nicht an, wenn ich Dich um diesen Preis davon befreien könnte! Aber ich meine, das Ganze ist doch so unbedeutend, daß Du Unrecht hättest, Dir deßwegen auch nur eine Minute Deines Lebens zu verstören.
Merkwürdig ist, daß Du trotz all’ dem Schönen, was Du hast, Deines Lebens nicht froh wirst. Ich komme um vor Sehnsucht und Reue – und Du, der Du Vieles von dem hast, was ich ersehne, und Vieles noch hast von dem, dessen Verlust ich bereue, – Du bist darum doch |anscheinend nicht ruhiger noch zufriedener. Ich werde von der Angst gequält, daß ich werde sterben müssen, ohne je gelebt zu haben, – und Du, Du lebst und leidest darunter, daß Du Dich nicht leben fühlst. Was sind das für Räthsel? Deine und meine und wahrscheinlich aller Menschen Lebensthätigkeit kommt auf diese Weise darauf hinaus, daß wir, Jeder in seiner Art, unser Leben vertrödeln und verlieren. Was Dich anlangt, so meine ich, Du grübelst zuviel. Du hast zuviel Raum vor Deinen Blicken.  Du solltest Dir selbst Grenzen aufstellen. Die Lösung aller dieser Probleme |liegt vielleicht darin, daß man sich ein Bett im Gewöhnlichen graben und ruhig zwischen zwei Ufern hinfließen soll. Das ist zu bildlich ausgedrückt. Für Dich heißt die reale Übersetzung vielleicht: Du solltest doch heirathen. Heirathen und Kinder haben – das ist vielleicht der einzige Weg, jene Übereinstimmung mit dem dunklen Willen der Natur herzustellen, die sich durch inneren Frieden belohnt. Die Freiheit? Was hat das zu sagen? Sie ist doch nur dazu gut, um | einmal Jemandem ein großes Geschenk damit zu machen, und wir machen eigentlich nur fortwährend Versuche, sie dem oder Jenem oder vielmehr Dieser oder Jener wegzugeben, – die Freiheit. . . . . . 
Arbeitest Du nun wieder? Hübsch ist die Idee, ein Schlußstück zum »Anatol« zu schreiben. Auch soll Mitterwurzer ruhig den Cyclus der kleinen Stücke spielen. Deine ganze Eigenart steckt doch darin, wenn sie auch klein sind. Die Idee der »Entrüsteten« gefällt mir sehr. Es sollte |einmal schlankweg ein Lustspiel werden. Dazu gehört freilich Ruhe und Seelen-Heiterkeit; aber Du wirssie schon wieder finden. Könntest Du nicht auf ein paar Wochen nach dem Süden fahren? Der Theater-Roman muß wohl erst reifen. Laß’ den Bahr nur ruhig vorangehen! Was hat denn das für Belang, was der Hanswursschreibt? Du scheinst übrigens wieder gut mit ihm zu stehen? Die »Zeit« isso zuckersüß für Dich. Was der Servaes dort über Dich geschrieben, ist |gewiß sehr schön; aber der Unsinn sonst in dem Artikel! Und Bahr als der Entbinder, der Georg Brandes von Wien! Das kränkt mich immer bitter, weil ich sehe, daß der Kerl mir persönlich etwas stiehlt. Die Jungen Wiener haben keines Entbinders bedurft; aber wenn schon Einer da war, der sie zusammengesucht hat, so war ich es. Als Bahr nach Wien kam, waren schon Alle da; und seine Wirksamkeit hat sich darauf beschränkt, daß er Dich beschimpft |und verkannt hat; daß er den Loris mißverstanden und verdorben hat; und daß er als neues Genie den grotesken Zieraffen Andrian gefunden hat. Und das läßt sich als Begründer der Wiener Bewegung preisen, deren gute Leistungen immer nur trotz Bahr entstanden sind! . . . . 
Dieser Dr. Graf, den mir Richard geschickt hat, gefällt mir recht gut. Er hat eine angenehme Art, ist aber wohl keine |starke Persönlichkeit und kein sehr klarer Kopf. Er streckt unsicher seine Fühlhörner ins Leben aus. Seine Bahr-Bewunderung habe ich bereits ein wenig erschüttert; aber es ist nicht gut möglich, ihm auszureden, daß Altenberg ein genialer Dichtergeist ist. Wollen sehen, was man aus ihm machen kann. Einstweilen habe ich ihm kleine Arbeiten für unser Blatt verschafft.
Die Fragen, die Du an mich stellst, me concernant, beantworten sich von selbst durch den Eingang dieses Briefes |(zu dessen Fertigftellung ich drei Tage gebraucht). Stimmung: verzweifelt (ich werde nie dazu kommen, den tiefen Riß in meinem Leben auszufüllen); Stellung: unerfreulich; Arbeit: null; Freunde: ein paar brave Leute auf Montmartre, ehrliche und simple Menschen, die mich in ihrer kühlen Weise gern haben und – nicht verstehen; Geliebte: schwere psychische (?) Impotenz. . . . 
Willst Du mir einen Gefallen thun? Ich möchte gern den »Lorenzaccio« von Musset für die deutsche |Bühne bearbeiten. Ich sende Dir anbei das Feuilleton, das ich darüber geschrieben. Könnte ich vielleicht vom »Burgtheater« den Auftrag zu dieser Bearbeitung bekommen? Könntest Du ein Wort mit Burckhardt oder mit Uhl reden? In meinem Feuilleton finden sie alle nöthigen sachlichen Angaben über das Stück. Das isso eine phantastische Idee, die ich habe; ausführbar wird sie natürlich nicht sein; und es lohnt nicht der Mühe, daß Du Dir deßwegen auch nur einen überflüßigen Weg machst. . . . . 
|Wie gern würde ich Dich bald einmal wiedersehen! Ist gar keine Aussicht, daß Du nach Paris kommst?
Grüß’ mir den lieben Richard und auch Leo Vanjung, wenn Du ihn siehst!
Allen den Deinigen wünsche ich ein glückliches neues Jahr; empfiehl’ mich insbesondere Deiner Frau Mutter und grüße mir recht herzlich Deinen Bruder und Deine Schwägerin.
|Und sei’ Du selbst von Herzen gegrüßt!
In Treue
Dein
 Paul Goldmann.
Nicht wahr, Du schreibst mir bald wieder einmal?
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