Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 13. 11. [1896]

Fondateur M. L. Sonnemann.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour.
Bureau à Paris

Le Figaro Mardi 10 Novembre
Mon cher Huret,
Pour compléter vos renseignements sur Arthur Schnitzler, laissez-moi vous dire que je viens de terminer la traduction en français de cette Liebelei dont vous rappelez le grand succès, l’hiver dernier, à Vienne.
Déjà deux de nos directeurs de théâtre m’ont promis . . . de lire cette traduction. Ai-je besoin d’ajouter qu’ils se proposent même de faire cette lecture »avec le plus vif intérêt«.
Votre bien dévoué,

Paris, 13. November.

Mein lieber Freund,

Oben siehst Du einen Ausschnitt aus dem »Figaro«. Die Übersetzung von Thorel ist – unter uns gesagt – leider recht schlecht, noch schlechter, als ich geglaubt. Er hat sich gar keine Mühe gegeben, das natürliche und lebendige Deutsch des Dialoges in natürliches und lebendiges Französisch umzusetzen. Ich tröste mich damit, daß es ein Anderer noch schlechter gemacht hätte. |Auch rechne ich auf die dem Stücke innewohnende Poesie, die sich beim besten Willen nicht umbringen läßt . . . . .
Mit Deinem lieben Briefe habe ich mich sehr gefreut. Ich begreife Deine Stimmung, und da Du Dir gewiß über die Gründe klar bist, wird auch dieses zweite Stück für Deine Entwickelung nützlich sein. Das Stück ist Dir unsympathisch, weil es nicht Deiner Natur und Deiner Schaffensart entspricht. Es ist nicht aus dem Leben herausgewachsen, sondern aus einer Idee, zu der hinterdrein die Figuren gesucht wurden. Besonders |sieht man das an dem Helden. Den hast Du nie gesehen. Du hast ihn Dir künstlich zusammenzimmern müssen, damit er zu Deiner Idee paßt. Darum bist Du so unsicher bei seiner Gestaltung gewesen, darum ist er Dir sschwer gefallen, darum ist er auch heut nicht recht gelungen. Und der Hauptfehler war: Es war ein Tendenzstück, und Du hast Dir das nicht eingestehen wollen und hast es nicht als Tendenzstück schreiben wollen. Es war ein Tendenzstück, das so aussehen sollte, als sei es natürlich |und erlebt. Das ist unmöglich. Die procédés Deiner Kunst, die Natürliches und Erlebtes ausdrücken will und kann, waren hier im Zwiespalt mit den Anforderungen des Sujets. Gerade die Unparteilichkeit halte ich für einen Fehler des Stückes. Es mußte parteilich sein. Es mußte ein Stück werden gegen das Duell. Für dieses Stück mußtest Du Deine bisherige Productions-Art beiseite lassen und Du mußtest es mit Haß und Leidenschaft schreiben, ganz ohne Rücksicht darauf, ob es unwahrscheinlich und |ungerecht wurde. Ich meine, Du sollst fürs Erste von allen Stoffen dieser Art, von allen »großen Zeitfragen« etc. lassen. Ich möchte Dir jetzt gerade einen Wanderzug in die Vergangenheit und in die reine Poesie empfehlen. Das historische Wiener Stück! Jetzt mußt Du es schreiben, und ich bin überzeugt, es wird Dir köstlich gelingen. Nimm’ Dir zwei oder drei Jahre Zeit und ruhe Dich ein wenig auf den zwei starken Erfolgen aus, durch welche Du mit einem |Male in die allererste Reihe unter den deutschen Bühnen-Dichtern gerückt bist. Ich möchte Dir einen schönen Stoff vorschlagen: Mozart, ein Wiener Volksstück mit Mozartscher Musik. Ich hatte neulich Gelegenheit, Otto Jahns Mozart-Biographie einzusehen. Natürlich hatte ich keine Zeit, die beiden dicken Bände ganz zu lesen. Aber aus dem, was ich gelesen, habe ich den Eindruck gewonnen, daß es ganz einfach eine der besten Biographien ist, die es gibt. Lies’ das Werk. Du wirst Mozart |lieb gewinnen, er wird Dir nahe treten als Wiener  und als Künstler. Es ist ein erschütterndes Ringen in diesem Leben, das nach dem Dramatiker ruft. Es lassen sich schöne Dinge sagen über Kunst und Dummheit und Infamie der Kritik und des Publicums – Dinge, die wir oft erlebt haben. Und am Schluß ein großartiges, ergreifendes Sterben, in welches das Übernatürliche hineingreift durch die so unendlich seltsame Geschichte mit dem Requiem. Alles, was Du vom Tode weißt, |kannst Du da sagen, und das Publicum müßte im Unklaren darüber bleiben, ob der geheimnißvolle Mann, der das Requiem bestellt, nicht wirklich aus dem Übernatürlichen herkommt. Und um das Alles herum das alte liebe Wien und sogar, bitte, der Kaiser Josef (der sich allerdings in der Sache sehr dumm benommen hat).
Dieser Tage sende ich Dir auch das erste französische Buch, das ich seit Langem mit Genuß gelesen habe (dieser Satz ist |grammatikalisch sehr falsch). Es stammt natürlich aus dem Jahre 1820 und ist ganz einfach der größte psychologische Roman, den es gibt: »Adolphe« von Benjamin Constant. Freilich ein Buch ohne Wärme, aber wie aus Erz gegossen, – nicht ein Wort zu viel, nicht eines zu wenig – die unerbittlichste Analyse eines schwachen Characters, die je ausgeführt worden. Und wenn man bedenkt, daß wir |Paul Bourget bewundert haben, nachdem es einen »Adolphe« gegeben hat!
Grüß’ Dich Gott, mein lieber Freund!
Schreib’ mir bald!
In Treue
Dein
Paul Goldmann.
Wenn Du den Leo Fanjung siehst, so grüß’ ihn, bitte.
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