Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 12. 11. [1899]

|Frankfurt, 12. November.

Mein lieber Freund,

Seit zwei Wochen muß ich meinen Onkel vertreten u. habe allein das Feuilleton zu redigiren, was bei unserem Blatte eine ungeheure Arbeit ist, welche den ganzen Tag und einen Theil der Nacht ausfüllt. Keine freie Viertelstunde also. Seitdem ich Deinen letzten lieben Brief erhielt, will ich Dir schreiben und leide sehr darunter, daß ich es nicht kann. Heut gibt endlich der Sonntag die Möglichkeit zur Ausführung des lang gehegten Vorsatzes.
Auf Deinen letzten Brief hätte ich Mancherlei zu fragen; aber ich fürchte, ich komme schon zu spät. In der Affaire Schlenther nämlich möchte ich immer wieder zur Mäßigung rathen. Es steht etwas sehr Wichtiges auf dem Spiele: Dein neues Stück. Was liegt demgegenüber an den drei Einaktern, die überdies überall in Deutschland |mit Erfolg gegeben werden, so daß Du schließlich auf die weitere Aufführung in Wien verzichten kannst. Alle Lebenskunst kommt oft darauf hinaus, kleine Concessionen zu machen, um große Ziele zu erreichen. Das große Ziel ist, daß das Burgtheater Dein neues Stück spielt. Ich finde, daß dir Schlenther durch seinen Besuch bei Dir bereits alle mögliche Satisfaktion gegeben hat, und ich meine, Du solltest darauf verzichten, ihn weiter zu demüthigen. Alles Sturmlaufen nützt übrigens nichts. Du wirst dadurch nicht einen feigen und verlogenen Menschen zum Muth und zur Wahrheit zwingen, und Österreich wirst Du auch nicht ändern. Ich hätte dem Schlenther an Deiner Stelle geradezu gesagt: »Gut, lassen wir’s gehen, aber spielen Sie mein neues Stück!« Und |wenn es nicht schon zu spät ist, möchte ich Dir rathen, die Verhandlungen noch in diesem Sinne zu führen. Kommt es aber zum offenen Conflict, so brauche ich Dir nicht erst zu sagen, daß Du unbedingt auf mich rechnen kannst, solange ich das Feuilleton redigire. Wenn freilich mein Onkel wieder zurück ist, so wird wieder der Einfluß seiner Frau auf das Feuilleton der Frankfurter Zeitung beginnen, und dann bin ich machtlos, und Du kannst auf nichts mehr rechnen.
An Wassermann habe ich – Dir zuliebe – einen mahnenden Brief schreiben lassen. Wenn er dennoch eines Tages fällt, so werde ich Schwarzkopf und Hirschfeld  als seine Nachfolger empfehlen.
|Ich hätte – trotz meines Nichtschreibens – gehofft, in diesen Wochen wieder etwas von Dir zu hören. Wenn Du auf meine Antwort gewartet hast, so laß’ mich jetzt nicht länger ohne Nachricht und schreibe mir, wie Du lebst und was Du arbeitest.
In meinem Leben bereiten sich große Stürme und vielleicht sehr schwerwiegende Ereignisse vor. Mein Verhältniß zu ihr ist glücklich, dank der Beflissenheit einiger intimer Freundinnen und auch infolge ihrer eigenen Unvorsichtigkeit, zum öffentlichen Gerücht geworden. Die ganze Stadt spricht zur Zeit davon. Es heißt, sie werde sich von ihrem Manne scheiden lassen und mich heirathen. Der Klatsch isso arg geworden, daß mein Chefredakteur bei mir hat anfragen lassen, ob er begründet sei. Ein hiesiges |Klatschblatt, die »Sonne«, hat bereits einen Artikel   darüber gebracht. Der Gemahl in Wien weiß noch nichts. Aber er soll in einigen Tagen zurückkommen, und dann wird die Geschichte wohl losgehen. Es kommt dazu, daß sie, von einem plötzlichen Wahrheitsdrang befallen, erklärt, sie werde ihrem Manne gegenüber nicht Alles ableugnen können. Mit banger Sorge sehe ich der Katastrophe entgegen, die kaum mehr aufzuhalten ist. Wenn ihr Mann sie verstößt, muß ich natürlich sie aufnehmen. Und was soll ich in meinen Verhältnissen, wo ich meine Mutter und mich gerade durchbringe, plötzlich mit einer Frau anfangen?
|Unter diesen Umständen ist mir diese kleine Stadt mit ihrer giftigen, ganz ohne Noth bösartigen und gemeinen Klatschsucht erst recht zum Ekel geworden, und ich beklage bitter, daß sich mein Engagement nach Berlin für die Neue Freie Presse zerschlagen hat. Hörst Du irgend etwas, wie es mit Frischauer steht? Und weißt Du vielleicht, wer jetzt in Paris für die N. Fr. Pr. ist?
Grüße mir Richard, Schwarzkopf, Deinen Bruder, Deinen Schwager und alle die anderen lieben Menschen; empfiehl’ mich Deiner Frau Mutter |und sei Du selbst von Herzen gegrüßt –
von Deinem treuen
Paul Goldmann.
    Bildrechte © Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar