Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 16. 2. 1925

|Berlin, 16. 2. 25.

Lieber Arthur,

Es hat mich sehr gerührt, daß Du mir zu meinem 60. Geburtstage gratulirt hast, u. ich danke Dir von Herzen für Deinen Brief. Er hat mich erfreut – u. ein wenig beschämt. Denn als Du vor wenigen Jahren Deinen 60. Geburtstag gefeiert hast, wollte ich Dir schreiben, brachte es aber nicht über mich, weil ich den Ton nicht finden konnte. Ohne Dir zu schreiben, habe ich Dir aber, glaube es mir!, alles Gute gewünscht, wie ich überhaupt, von fern |u. in der Stille, an allen Deinen Lebensschicksalen ftets den herzlichsten Anteil genommen habe.
In unseren Jahren – traurig, nicht wahr?, daß wir bereits »in unseren Jahren« sind! – vermeidet man gern Aussprachen u. läßt die Dinge bestehen, wie das Leben sie gestaltet hat. Ich habe aber das Gefühl, daß Dein Brief mich zu einer Angabe von Gründen für mein Verhalten verpflichtet, u. daß ich Dir für die schönen Worte, die Du mir geschrieben hast, volle Offenheit schulde.
Unsere Wege haben sich vor Jahren getrennt. |Es gab damals einen Streit zwischen uns. Du hattest mir vorgeworfen, daß ich über eines Deiner Stücke in der Öffentlichkeit anders geurteilt hätte, als ich dies vorher in einem Privatbriefe an Dich getan hatte. Ich empfand dies als eine schwere Kränkung. Denn wenn ich heut auf mein langes Journalisten-Leben zurückblicke, darf ich von mir sagen, daß ich (in wesentlichen Fragen) öffentlich niemals anders gesprochen habe, als ich wirklich gedacht habe, – daß ich niemals zwei verschiedene Meinungen gehabt habe, eine öffentliche |u. eine private. Als ich dann meinen Brief an Dich nachlas, fand ich bestätigt, daß Du mir Unrecht getan hattest. Denn schon in diesem Briefe waren Einwendungen angedeutet u. Vorbehalte gemacht – nur waren diese Einwendungen u. Vorbehalte in rücksichtsvolle Form gekleidet. Denn in einem Privatbriefe an einen Freund sind Rücksichten erlaubt, ja geboten, während man zu rückhaltsloser Aussprache seiner Meinung verpflichtet ist, wenn man als Kritiker zum Publikum spricht.
Aber, wäre es nur |diese Kränkung gewesen, – ich hätte sie längst vergessen u. wäre längst wieder zu Dir gekommen, um Dir die Hand zu bieten. Die Erinnerungen an schöne gemeinsame Jugendjahre, die auch Du in Deinem Briefe jetzt erwähnst, leben weiter u. ziehen mich zu Dir, der Du ja überhaupt unter all’ den Menschen, denen ich auf meinem Lebenswege begegnet bin, einer der Besten u. Liebenswertesten bist.
Was mich von Dir ferngehalten hat, war etwas anderes. In einem Deiner Briefe, die unser damaliger Konflikt |hervorrief, fand sich folgende Äußerung über mich (ich zitire nur die hauptsächlichen Worte, soweit sie mir in der Erinnerung geblieben sind): »Du bist ein Mensch ohne jede Phantasie – eine gänzlich unkünstlerische Natur.« Das isschlimmer als eine Kränkung – das ist ein Urteil – ein Urteil, das meine Person, meine ganze Lebensarbeit tief herabsetzt. Ich fand dasselbe Urteil noch einmal wieder in einem Deiner Stücke, wo, in unverkennbarer Anspielung auf mich, |von einem Journalisten die Rede ist, einem »raté«, der »zu den Menschen gehört, die eine poetische Seele, aber kein poetisches Talent haben.«
Ich halte Dein Urteil über mich für unrichtig, finde, daß es mich gänzlich verkennt, u. habe damals eine tiefe Bitterkeit darüber gefühlt, daß mich derjenige so verkennt, der lange Jahre hindurch mein nächster Freund war. Dieses Dein Urteil über mich hat mich damals von Dir entfernt u. hat mich bis heut von Dir ferngehalten. Ein Urteil aber, wie gesagt, |isschlimmer als eine Kränkung. Denn eine Kränkung löscht die Zeit aus. Das hätte sie namentlich in unserem Falle getan. Denn die Vergangenheit wird ein Ganzes, u. in diesem Ganzen isso viel Gutes, das ich Dir verdanke, daß der eine Grund, Dir böse zu sein, dagegen nicht in Betracht kommt.
Ein Urteil jedoch bleibt. Gewiß, es kann revidirt werden. Aber Du haft es sicherlich nicht revidirt. Denn wenn Du schon in der Zeit, als wir nahe Freunde waren, Dir eine so unrichtige Anschauung über mich |gebildet haft, warum solltest Du sie geändert haben in den Jahren, seit wir fern von einander leben? Ich verlange auch keine Revision Deines Urteils über mich. Ich lasse Jedem seine Überzeugung, auch wenn ich sie für irrig halte, – so wie ich beanspruche, daß man mir meine Überzeugung läßt. Daß Du Dir aber diese Überzeugung über mich gebildet hast, das macht es mir sschwer, den Weg wieder zu Dir zu finden. Gewiß, ich bin es gewohnt, verkannt u. unterschätzt |zu werden, – u. ich habe mich damit abgefunden. Schließlich wird einem das Urteil der meisten Menschen gleichgiltig, u. man findet seine Entschädigung darin, daß ein paar Freunde wissen, wer man ist.
Ein Freund jedoch, der sich dem herabsetzenden Urteil der anderen Menschen anschließt, – gewiß, auch der Freund hat das Recht, sich in voller Freiheit sein Urteil zu bilden, – ich aber kann es nicht über mich |gewinnen, den Freund, der mich kennen müßte u. nicht kennt, noch als Freund zu betrachten . . .
Und nun sei nochmals herzlichst bedankt für Deinen lieben Brief! Sei überzeugt, daß ich, trotz allem, in meiner Gesinnung Dir gegenüber der Alte geblieben bin! Und laß’ Dir von Herzen alles Gute wünschen!
Dein
Paul Goldmann.
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