Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 11. 2. 1900

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Amt VI. No. 2838.
Berlin W., den 11. Februar 1900.

Mein lieber Freund,

Ich danke Dir von Herzen für Dein Stück. In den Nächten, die auf die schwere Arbeit dieser Tage folgten, habe ich es gelesen.
Ich glaube, es ist das Bedeutendste, was Du geschrieben hast. Die Sprache, Poesie und Prosa, ist prachtvoll. Die Verse namentlich find von einer goldenen Reife, – zum Theil von wunderbarer Schönheit. Und dabei ganz |Du selbst. Kein Ton von einem Andern (Ich denke dabei an Gerhart Hauptmann, den ich erst vor Kurzem gehört habe, wie er Shakespeare nachstammelte.)
Was die Bühnenwirkung anlangt, so habe ich noch nie vor einem Drama so rathlos gestanden. Vielleicht wird es mir bei längerem Nachdenken klarer. Denn ich bin eben erst zu Ende. Es sind Szenen darin, die Einem schon beim Lesen den dramatischen Schauer geben, – die ergreifendste issicherlich die zwischen Filippo und Beatrice am Schluß des dritten Akts. Aber einige Charaktere verstehe ich nicht. Und ich weiß nicht: werden sie auf der Bühne, von bedeutenden Künstlern |dargestellt, erst zu Leben und Wahrheit erwachsen, oder werden sie auf der Bühne erst recht unbegreiflich scheinen, weil die feinen psychologischen Nuancen auf dem Theater so gut wie unsichtbar werden? In dieser Frage ruht, meiner Ansicht nach, die Frage der Bühnenwirksamkeit des Stückes. Und ich bin außer Stande, sie zu beantworten.
Die Beatrice verstehe ich noch ganz gut. Kann die weibliche inconscience so weit gehen? Ich würde es nicht für möglich halten, aber es wird durch das Drama beinahe wahrscheinlich. Ich beuge mich vor der Gestaltungskraft des Dichters, obwohl im Grunde meines Herzens einige |Zweifel verbleiben. Aber den Filippo verstehe ich nicht. Wie? Die Heißgeliebte und Heißersehnte kommt, und man schickt sie wieder weg – wegen eines Traumes? Wenn ich mein Mädchen heut in den Armen halte, kann sie gestern geträumt haben, was sie will. Und dann kommt sie wieder, – kommt wieder aus dem Brautgemach des Herzogs heraus. Filippo will mit ihr sterben. Sie hat Furcht vor dem Tode und will am Leben bleiben. Schön! Aber warum bringt er sich dann um? Sie ist menschlich und wahr. Und er sieht das nicht ein, – er, der ein Dichter ist? Man kann Jemanden immer noch ungeheuer lieb haben, selbst wenn man nicht mit ihm sterben will. Es geht |nun einmal nicht so leicht mit dem Sterben. Das Alles sagt Filippo selber mit den herrlichsten Worten. Und auf einmal bringt er sich um. Weshalb? Ich kann es nicht begreifen. Und ich finde, wenn man ein schönes Liebchen hat, und wenn sie in der Nacht zu Einem kommt, und wenn man nicht weiß, was morgen sein wird, so greift man, weiß Gott, nicht zum Giftbecher. Ich mag die jungen |Leute nicht, die sich aus Psychologie vergiften.
Auch den Herzog verstehe ich nicht. Ich hätte ihn verstanden, wenn die Trauung mit Beatrice  ein Fastnachts-Scherz gewesen wäre. Aber ich begreife nicht, daß dieser Renaissance-Despot sentimental genug ist, das Mädchen wirklich zu heirathen. Gewiß, es ist nur für eine Nacht, und man weiß nicht, was morgen sein wird. Und doch hat er unverkennbar sentimentale Anwandlungen, und die |passen nicht zum Bilde eines Mannes, der entschlossen ist, das Leben in seiner Fülle zu genießen. 
Bewundernswürdig aber ist wieder die Fülle der andern Figuren, die Alle leben, die großen und die kleinen. Den Francesco mag ich freilich auch nicht und es kommt mir vor, als sei er nur da, damit sich am Schluß doch noch Jemand finde, welcher die Beatrice ersticht. Ob es unumgänglich ist, daß sie erstochen wird, ist mir ebenfalls nicht klar.
Höchst eindrucksvoll ist es, wie sich alle diese Ereignisse in der einen Nacht zusammendrängen und wie während |des ganzen Dramas Cesar Borgia vor den Thoren von Bologna steht. Auch habe ich auf mancher Seite des Buches die Kraft und die Fülle der Zeit empfunden, in welche die Handlung verlegt ist . . . . .
Das sind wenige, flüchtige Worte, – mit müdem und schmerzendem Kopfe geschrieben.
Ich grüße Dich von Herzen
Dein
Paul Goldmann.
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