Mir ist, als hättest Du den eigentlichen Sinn und Zweck meines Glückwunschschreibens missverstanden. Es war a priori nicht anzunehmen, dass wir, Du und
ich, über uns selbst und über einander als Sechzigjährige
wesentlich anders denken sollten, als wir vor 10 oder 15 Jahren gedacht haben; – und
es ist möglich, dass meine Ansicht über die Art und das Ausmass Deiner Begabung so
wenig zutrifft, als das Deine über mich und meine Werke.
Jedesfalls liegt die Entscheidung darüber nicht bei uns Beiden und es liegt mir ferne
heute über diese Fragen eine Diskussion zu
eröffnen, die doch aller Voraussicht nach nicht zu einer Einigung führen dürfte.
Ob Dir eine Arbeit von mir mehr oder weniger gelungen scheint; – ob ich Deinen
menschlichen Wert und Deine schriftstellerische Bedeutung darin ausgedrückt finde,
was man gemeiniglich poetisches Talent nennt, oder in andern an sich nicht minder
hochzuschätzenden Elementen Deines Wesens und Deiner Begabung, – das kommt für meine
Empfindung im gegenwärtigen Moment unseres Lebens nicht mehr in Betracht.
Was ich in meinem Brief sagen oder wenigstens anzudeuten versuchte, – das ist: dass
über unseren Meinungen und Urteilen, mögen sie nun
irrtümlich sein oder nicht, zwischen Dir und mir eine Beziehung bestand und für mein
Gefühl noch immer besteht, die in einer seelischen und geistigen Gemeinsamkeit
unserer Jugendjahr wurzelt – und somit als »Idee« unzerstörbar ist, mag sie auch |für die äussere Gestaltung unseres Verhältnisses zu
meinem Bedauern keine genügende aufbauende Kraft mehr besitzen.
Trotzdem (oder deswegen) könnte auch ich mich versucht fühlen ein Wort aus einem meiner Stücke zu zitieren, wie Du es getan –
Hofreiter spricht es im
»
Weiten Land« aus, dass es nämlich überhaupt
nur ewige Liebe und
ewige Freundschaft gebe (auch wenn die Freunde durch die Macht der Umstände
gedrungen sein sollten sich gegenseitig totzuschiessen (ich zitiere ungenau)); – und
so musst Du es Dir schon gefallen lassen, dass ich mich auch weiterhin mit
neuerlichen Glückwünschen und Grüssen Deinen Freund nenne, wie in fernen Jugendtagen
– (ohne mörderische und ohne sentimentale Consequenzen)
Herzlichst Dein
A.S.