Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 16. 10. [1898]

|Peking, 16. Oktober.

Mein lieber Freund,

Alle Deine Karten von unterwegs, sowie Deinen lieben Brief aus Luzern habe ich erhalten.
Ich freue mich, zu erfahren, daß der Sommer so angenehm für Dich verlaufen ist. Hoffentlich bleibt von dem guten Resultat etwas für den Winter zurück. Ich kann Dich immer nur wieder darauf hinweisen: Wenn Alles, was Dich quält, sich auf Reisen so ganz verliert, kann es doch unmöglich materielle Gestalt haben. Im Übrigen hoffe ich, daß die viele Arbeit, die Du vorhast, ein gutes Heilmittel gegen die Hypochondrie sein wird. Schon aus dem Grunde |bin ich sehr froh über alle Deine neuen Pläne, von denen Du schreibst. Aber auch sonst (unberufen!) ist es prächtig, wie sich so Vieles in Dir regt und wie es aus Dir so reich herausblüht!
Was Du über die Disciplin beim Schaffen sagst, issehr schön, aber ich meine, es stimmt nicht. Man soll sich nicht so fatalistisch hinsetzen und einfach das aus sich herausfließen lassen, was in Einem liegt. Was in Dir liegt, ist zu einem Zehntel vielleicht Natur, zu neun Zehnteln aber das, was Du in Dich hineingelegt hast. Der Schriftsteller ist doch ein Product aus Natur und aus sich selbst. Er ist in fortwährender Entwickelung begriffen; und |während er an einem Werke arbeitet, arbeitet er zugleich ebenso an sich selbst. Gewiß soll Jeder nur schaffen, was er vermag. Aber Jeder soll auch bestrebt sein, immer mehr zu vermögen. Gewiß darf Keiner aus seiner Art herauswollen. Doch in seiner Art kann Jeder Alles anstreben, und auf allen Arten kann man zum Höchsten kommen, wie ja alle Wege zum selben Bergesgipfel führen. Blase Du nur ruhig Deine Flöte, die so liebe Klänge gibt. Ich meine nicht, daß Du auf einmal anfangen sollst, die Geige zu streichen. Aber ich möchte, daß Du auf Deiner Flöte auch einmal ein anderes |Lied spielst. Die Gleichnisssind alle falsch. Lassen wir also die Gleichnisse! Ich meine: Aus Deinen Novellen sehe ich wieder, wie Du große menschliche Töne zu finden vermagst. Nur steckt das immer in einer Liebesgeschichte gleichsam als Episode drin. Warum nicht die Liebesgeschichte einmal weglassen und das große Menschliche  allein schreiben, ohne alle Liebe? Oder meinst Du wirklich, daß Du ein »Erotiker« bist, wie dieses Rindvieh Lothar geschrieben hat?
Ich bin schon ungemein gespannt auf Dein neues Stück – mehr auf das Stück |selbst, als auf das, was das Publicum dazu sagt. Die Idee ist vortrefflich, und ich stelle mir ein sehr zu Herzen gehendes Drama vor . . . . .
Ich bin nun schon fast drei Wochen in Peking, dem grauenhaftesten Schmutznest der Welt, habe aber manches Interessante miterlebt, bin auch einmal beinahe dem chinesischen Pöbel in die Hände gerathen, was sehr schlecht hätte ablaufen können. Aber auch die Gefahr hat ihren Reiz – besonders nachher. Zugleich issie eine gute Lection: Man lernt, ruhig und entschlossen sich zu benehmen. Morgen fahre |ich wieder nach Tientsin, von da nach Shanghai zurück. Was dann werden wird, ist unklar; und dunkel ist auch, was nach meiner Rückkehr geschehen soll. In Wien bleiben? Was soll ich in einem Lande machen, wo man die Leute einsperrt, wenn sie vor dem Sakrament nicht den Hut abnehmen? Ich glaube, in vier Wochen wäre ich ausgewiesen oder im Gefängniß. Und wem fehle ich in Wien? Dir? Es issehr lieb, daß Du das sagst. Aber ich weiß nicht, ob es gut wäre, wenn wir wieder in einer Stadt |zusammenlebten. Wir kennen eigentlich nur unsere guten Eigenschaften und haben unsere schlechten vergessen. Wer weiß, ob diese uns nicht jetzt, wo wir nicht mehr die Anpassungs-Fähigkeit von ehedem haben, sehr stören würden. Wer weiß, wieviel Trennendes sich bei einem dauernden Zusammenleben zwischen uns plötzlich aufrichtig würde! Und wem fehle ich sonst in Wien? Keinem Menschen, nicht einmal dem Richard. Wo soll überhaupt in dieser Stadt für mich ein Platz sein? Ich kann ihn nirgends entdecken . . . . .
Ich bat Dich schon, Deine |lieben Briefe fortan an meine Mutter zu senden, welche telegraphisch meine neue Adresse erfahren wird. Ich selbst kann Dir einstweilen keine angeben.
Empfiehl’ mich Deiner Freundin und sei Du selbst von Herzen begrüßt!
Dein treuer
Paul Goldmann.
Bitte, sage dem Herrn, der mir die Empfehlung an den Dr. von Rosthorn übersandt hat, daß ich keine Zeit hatte, sie abzugeben. Es liegt mir daran, daß Du ihm das sagst. Ich erkläre es Dir später einmal.
In einem fransischen Blatte las ich Berichte über den Zionisten-Congreß. Das wird doch ein recht widerlicher Unfug!
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