Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 24. 12. [1892]

|Paris, 24. December.
Also Weihnachtsabend. Aber nicht sentimental, beileibe! Das thun wir hier nicht, das hält auf, das ist reactionär. Wir wollen vorwärts. Und darum müssen wir stark werden. Was für einen schwachen Menschen wohl nur soviel bedeutet, daß er daran vergißt, daß er eigentlich schwach ist.
Mein theurer Freund! Es ist Weihnachtsabend, und ich hätte unter keinen Umständen Zeit, Dir zu schreiben –, wenn ich nicht die Chance gehabt hätte, |vorgestern beim Heruntersteigen von der Tramway zu stürzen und mir die linke Schulter auszurenken. Man nennt das hier eine luxation de l’épaule, renkt das gewohnheitsmäßig falsch ein, renkt das dann wieder aus – remettre und démettre – und constatirt jedesmal, daß eine neue Gelenkkapsel oder Gelenkband – ich weiß nicht, wie das Zeug auf deutsch heißt – zerrissen ist. Der Tag geht für den Patienten unter diesen Umständen nicht ohne heitere Zerstreuungen vor|über. Mais, enfin – ich bin genöthigt, für einige Tage meinen Dienst einzustellen – wenn nicht die Kurpfuscher, in deren Händen ich hier bin, einige Wochen daraus machen – und vor Allem, ich sitze heut Abends müßig zuhause. Habe ich also gesucht, an der Sache eine gute Seite zu finden, habe eine sehr künstliche Installation auf meinem Schreibtisch gemacht, um das Papier sesthalten zu können, und habe mich dann niedergesetzt, um |endlich einmal wieder mit Dir, Liebster, zu plaudern. Und siehe da, es geht.
Ich sehe zu meiner großen Herzenserleichterung – habe mir wirklich viel Sorge darüber gemacht – daß Du mir nicht bös bist, weil ich Dir nicht antworte. Aber, weiß Gott, es geht nicht! Das Leben, das wir in dieser bösen Zeit zu führen gezwungen sind, ist einfach unmenschlich. Der Dienst verschlingt Alles, Essenszeit, Schlafenszeit, und nun gar erst die |Zeit zum freundschaftlichen Briefwechsel. An Dich gedacht? Oh, mein lieber Freund, wie oft, wie oft! Mitten im Sturm der Eindrücke, mitten im feinem Kunstgenuß, wo ich immer gar so gern mit Dir getheilt hätte. Und besonders auch in diesen Stunden der verzweifelten Verlassenheit und Lebensmüdigkeit, wo ich mich nach Dir gesehnt, als nach einem Menschen! Denn das gibt es hier nun wohl gar nicht. Ich habe immer den gleich starken Wunsch, Dich |wiederzusehen. Aber ich würde mich anderseits doch davor fürchten; denn einmal habe ich Sorge davor, du würdest mich in Vielem verändert und nicht mehr so mit Dir zusammenstimmend finden; und dann fürchte ich, ich würde die Verlassenheit wieder schwerer ertragen und würde wieder arg mit meiner Wien-Sehnsucht zu ringen haben, die eine Form meiner Sentimentalität ist, will sagen meines Nichtvorwärtskommens, will sagen etc. siehe oben. |Aber Eines begreise ich doch nicht: Ganz abgesehen von dem zwischen mir und Dir. Sag’ mir: warum kommst Du nicht nach Paris? Und zwar auf lange? Um jeden Preis? Glaub’ mir – ich sehe es jetzt so deutlich, wie nur irgend etwas auf der Welt – es ist für Deine ganze Entwickelung einfach unentbehrlich. Es wird Dir ekelhaft, abscheulich, unerträglich sein. Aber Du weißt ja, daß das die |Formen sind, in denen die Entwickelungs-Krisis aufzutreten pflegt. Und Du würdest hier eine solche Fülle neuer Ideen, – würdesso gewaltige Chocs bekommen, – daß Du am Ende wie ein neuer Mensch dastehen und mit ganz anderen Augen sehen würdest. Specieller: Das Leben in Paris verpflichtet, es auch damit zu versuchen. |Also komm’ her, mein lieber Arthur, – nicht meinetwegen. Ich würde Dich vielleicht alle drei Wochen einmal sehen können, um Dich zu bitten, daß Du mir ein Nachtmahl zahlst. Aber Deinetwegen! Folge mir! Du wirst es nicht zu bereuen haben! Das heißt, Du wirst es furchtbar bereuen. Aber es wird Dir ganz enorm gesund sein.
Woraus Du nicht etwa schließen darfst, daß ich mich hier wohl fühle. |Im Gegentheil! Entsetzlich elend. Heimathlos, verstoßen, zuschanden gearbeitet, angewidert, unbefriedigt etc. Aber eine große Compensation dafür ist da: Ich fühle, daß ich lerne. Und solange das Gefühl anhält, will ich es muthig hier aushalten. Vom eigentlichen Lebensziel freilich ferner als je. Keine Selbständigkeit zu erblicken – kein Erwerb, kein Vermögen. Tagelohn und Schulden. |Keinen Weg zu den 12000 frcs Rente, die ich brauche. Weißt Du mir vielleicht einen? Dann komme ich gleich wieder, und dann bleiben und schaffen wir mitsammen. Oder irgend eine sichere nicht-journalistische Stellung? Wenn Dir so etwas unter die Augen kommt, denk’ bitte an mich! . . . .
Und nun Du. Vielen Dank für die Kritiken. Werth hat nur die von Dr. Meyer. Es erhöht meinen |Respekt vor dem Manne beträchtlich, daß er einem Freunde so derb seine Meinung sagt. Er hat zwar in der Sache meiner Ansicht nach Unrecht, aber als Offenheit ist es werthzuschätzen. Alle übrigen verstehen Dich nicht, außer etwa Ludassy. Bauer: eine lobende Notiz mit Rücksicht darauf, daß man in dem Hause dinirt und sich die Beziehung zu dem Papa-Regierungsrath erhalten will. Nossig: |einer, der auf Beides – die Diners und die Beziehung – candidirt. Macht aber nichts; sie sollen nur von dir sprechen. Der Ruf wird ja nicht dadurch zunächst gemacht, daß man verstanden, sondern dadurch, daß überhaupt von Einem gesprochen wird. Ich selbst hätte längst über Dich schreiben sollen. Aber wann? Pure physische Unmöglichkeit, da ich Dich doch nicht damit |beschimpfen will, daß ich eine Reklamenotiz für Dich zusammenschmiere. Die Sache mußte künstlerisch verarbeitet werden. Aber ich habe nicht eine Stunde dafür gehabt. Soll also inzwischen der Andere schreiben – der Berliner – ein ganz braver Mensch, bornirt, aber nach der guten Richtung bornirt, d. h. mit einem dummen Vorurtheil für das Moderne be|haftet, was Dir zustatten kommen wird. Er wird wohl bald losschießen. Und dann kann ich ja immer noch das Wort nehmen, wie es mein sehnlicher Wunsch und fester Vorsatz ist. Herzl aber wird nicht schreiben. Ich habe mein Möglichstes gethan – ich bin soweit gegangen, als ich gehen konnte, – aber, ein so braver Mensch er ist, so kennst Du doch auch seinen |Größenwahn. Und er hat mir auf meine Andeutungen in einer Weise geantwortet, daß ich nicht mehr darauf zurückkommen konnte, ohne Dich bloszustellen. (»Wenn er mir sein Buch deshalb geschickt hat, damit ich darüber schreibe etc«  . . . . )
Und nun Dein Stück? Auf wann die Aufführung? Und das neue Stück? Und Deine Novellen? Und, sag’ mir nur, warum |bist Du ein so elender Mensch und schreibst mir nichts Persönliches mehr? Weißt Du, daß Du mich glücklich aus Deinem Leben herausgeworfen hast? Und daß Du mich auf literarische Diät gesetzt hast? Literarischer Beirath! Aber Arthur! Pfui Teufel! Schämst Du Dich denn gar nicht? . . .
Ich habe Jemanden für Euren lieben Kreis. |Das sympathischeste Mitglied hat sich aus unserer Redaktion losgelöst, weil es von Sonnemann denn doch gar zu sehr chicanirt wurde, und ist – Wiener von Geburt und Erziehung – unser Wiener Correspondent geworden. Dr. Heinrich Kanner – Adresse wird Dir Dr. Joachim sagen, oder ich schreib’ sie Dir auf – einer der liebsten Leute, die mir überhaupt be|gegnet sind. Kein Künstler sondern Volkswirth und Politiker. Aber doch vielleicht Künstlernatur, vor Allem aber ein wahres Ideal an Gescheitheit, Feinsinn und Noblesse. Geh’, setz’ Dich mit ihm in Verbindung. Wirst Deine Freude daran haben . . . . .
Von ganzem Herzen ein frohes neues Jahr, mein theurer Freund! |Arbeitslust! Erfolg! Und vorwärts! Die allerwärmsten Grüße an Loris und Richard (Richard soll mir schreiben!!!). Ergebene Empfehlungen und Neujahrswünsche an Deine Eltern. Grüße an Deinen Bruder, Kapper und wen ich sonst noch in Wien lieb habe, was Du ja ebenso wohl weißt wie ich.
Und ich umarme Dich von ganzem Herzen, |in alter, unwandelbarer, treuer Freundschaft.
Dein
Paul Goldm
Der kleinen Else: Handkuß, und ich hab’ die Sachen leider selbst nicht mehr. Liegt auch so weit hinter mir. Will mich auch gar nicht mehr daran erinnern, daß ich einmal Künstler werden wollte und daß es kleine Elsen in der |Welt gibt. Das thut so weh!
Und sag’ einmal: Könntest Du nicht unter der Hand einmal und ganz zufällig erfahren, was Hilda macht? Ich glaube, ich habe mich da doch wie ein Schaf benommen. Dieses aber unter uns.
Bald einen Brief, nicht wahr? Theils literarisch, theils persönlich!
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