Also Weihnachtsabend. Aber nicht sentimental,
beileibe! Das thun wir hier nicht, das hält auf, das ist reactionär. Wir wollen
vorwärts. Und darum müssen wir stark werden. Was für einen schwachen Menschen wohl
nur soviel bedeutet, daß er daran vergißt, daß er eigentlich schwach ist.
Mein theurer Freund! Es ist Weihnachtsabend, und ich
hätte × unter keinen Umständen Zeit, Dir zu schreiben –, wenn ich nicht die Chance gehabt hätte, |vorgestern beim Heruntersteigen von der Tramway zu stürzen und mir die linke Schulter auszurenken. Man nennt das hier eine luxation de l’épaule, renkt das gewohnheitsmäßig falsch ein, renkt das dann wieder aus – remettre und démettre – und constatirt jedesmal, daß eine neue Gelenkkapsel oder Gelenkband – ich
weiß nicht, wie das Zeug auf deutsch heißt – zerrissen ist. Der Tag geht für den
Patienten unter diesen Umständen nicht ohne heitere Zerstreuungen vor|über. Mais, enfin –
ich bin genöthigt, für einige Tage meinen Dienst einzustellen – wenn nicht die
Kurpfuscher, in deren Händen ich hier bin, einige Wochen daraus machen – und vor
Allem, ich sitze heut Abends müßig zuhause. Habe ich also gesucht, an der Sache
eine gute Seite zu finden, habe eine sehr künstliche
Installation auf meinem Schreibtisch gemacht, um das Papier sesthalten zu können, und
habe mich dann niedergesetzt, um |endlich einmal
wieder mit Dir, Liebster, zu plaudern. Und siehe da, es geht.
Ich
sehe zu meiner großen Herze
s↓n↓serleichterung – habe mir wirklich viel Sorge darüber gemacht – daß Du mir
nicht bös bi
st, weil ich Dir nicht antworte. Aber, weiß Gott, es geht nicht! Das
Leben, das wir in die
ser bö
sen Zeit zu führen gezwungen
sind, i
st einfach
unmen
schlich. Der Dien
st ver
schlingt Alles, E
ssenszeit, Schlafenszeit, und nun gar
er
st die
|Zeit zum freund
schaftlichen Briefwech
sel.
An Dich gedacht? Oh, mein lieber Freund, wie oft, wie oft! Mitten im Sturm der
Eindrücke, mitten
im feinem Kun
stgenuß, wo ich immer gar
so gern mit Dir getheilt hätte. Und be
sonders
auch in die
sen Stunden der verzweifelten Verla
ssenheit und Lebensmüdigkeit, wo ich
mich nach Dir ge
sehnt, als nach einem
Menschen! Denn
das gibt es hier nun wohl gar nicht. Ich habe immer den gleich
starken Wun
sch, Dich
|wiederzu
sehen. Aber ich würde mich ander
seits
doch davor fürchten; denn einmal habe ich Sorge davor, du würde
st mich in Vielem
verändert und nicht mehr
so mit Dir zu
sammen
stimmend finden; und dann fürchte ich,
ich würde die Verla
ssenheit wieder
schwerer ertragen und würde wieder arg mit meiner
Wien-Sehn
sucht zu ringen haben, die eine Form
meiner Sentimentalität i
st, will
sagen meines Nichtvorwärtskommens, will
sagen
etc. siehe oben.
|Aber
Eines begrei
se ich doch nicht: Ganz abge
sehen von dem zwi
schen mir und Dir. Sag’ mir:
warum komm
st Du nicht nach
Paris? Und zwar auf lange? Um jeden Preis? Glaub’ mir – ich
sehe es jetzt
so
deutlich, wie nur irgend etwas auf der Welt – es i
st für Deine ganze Entwickelung
einfach unentbehrlich. Es wird Dir ekelhaft, ab
scheulich, unerträglich
sein. Aber Du
weißt ja, daß das die
|Formen
sind, in denen die
Entwickelungs-Kri
sis aufzutreten pflegt. Und Du würde
st hier eine
solche Fülle neuer
Ideen, – würde
st
so gewaltige
Chocs bekommen, – daß Du
von am Ende wie ein neuer Men
sch da
stehen und mit ganz anderen Augen
sehen
würde
st. Specieller: Das Leben in
Paris
verpflichtet, es auch damit zu ver
suchen
. |Al
so komm’ her, mein lieber
Arthur, – nicht meinetwegen. Ich würde Dich vielleicht alle drei Wochen
einmal
sehen können, um Dich zu bitten, daß Du mir ein Nachtmahl zahl
st. Aber
Deinetwegen! Folge mir! Du wir
st es nicht zu bereuen haben! Das heißt, Du wir
st es
furchtbar bereuen. Aber es wird Dir ganz enorm ge
sund
sein.
Woraus Du nicht etwa schließen darfst, daß ich mich hier wohl fühle. |Im Gegentheil! Entsetzlich elend. Heimathlos,
verstoßen, zuschanden gearbeitet, angewidert, unbefriedigt etc. Aber eine große Compensation dafür ist da: Ich fühle, daß ich lerne. Und solange das Gefühl anhält, will ich es
muthig hier aushalten. Vom eigentlichen Lebensziel freilich ferner als je. Keine
Selbständigkeit zu erblicken – kein Erwerb, kein Vermögen. Tagelohn und Schulden. |Keinen Weg zu den 12000 frcs Rente, die ich brauche. Weißt Du mir vielleicht einen? Dann komme ich
gleich wieder, und dann bleiben und schaffen wir mitsammem↓n↓. Oder irgend eine sichere nicht-journalistische Stellung? Wenn Dir so etwas
unter die Augen kommt, denk’ bitte an mich! . . . .
Und nun Du. Vielen Dank für die Kritiken. Werth hat nur die von Dr.
Meyer. Es erhöht meinen
|Re
spekt vor dem
Manne beträchtlich, daß er einem
Freunde so derb
seine Meinung
sagt. Er hat zwar in
der Sache meiner An
sicht nach Unrecht, aber als Offenheit i
st es werthzu
schätzen.
Alle übrigen ver
stehen Dich nicht, außer etwa
Ludassy.
Bauer: eine lobende
Notiz mit Rück
sicht darauf, daß
man in dem Hau
se dinirt und
sich die Beziehung zu dem
Papa-Regierungsrath erhalten will.
Nossig:
|einer, der auf Beides – die
Dine Diners und die Beziehung – candidirt. Macht aber
nichts;
sie
sollen nur von dir
sprechen. Der Ruf wird ja nicht dadurch zunäch
st
gemacht, daß man ver
standen,
sondern dadurch, daß überhaupt von Einem ge
sprochen
wird. Ich
selb
st hätte läng
st über Dich
schreiben
sollen. Aber wann? Pure phy
si
sche
Unmöglichkeit, da ich Dich doch nicht damit
|be
schimpfen will, daß ich eine Reklamenotiz für Dich zu
sammen
schmiere. Die Sache
mußte kün
stleri
sch verarbeitet werden. Aber ich habe nicht eine Stunde dafür gehabt.
Soll al
so inzwi
schen der
Andere schreiben – der
Berliner – ein ganz braver
Mensch,
bo bornirt, aber nach der guten Richtung bornirt, d. h. mit einem dummen
Vorurtheil für das Moderne be
|haftet, was Dir
zu
statten kommen wird. Er wird wohl bald los
schießen. Und dann kann ich ja immer noch das Wort nehmen, wie
es mein
sehnlicher Wun
sch und fe
ster Vor
satz i
st.
Herzl aber wird nicht
schreiben. Ich habe mein Möglich
stes gethan – ich bin
soweit
gegangen, als ich gehen konnte, – aber, ein
so braver
Mensch er i
st,
so kenn
st Du doch auch
seinen
|Größenwahn. Und er hat mir auf meine
Andeutungen in einer Wei
se geantwortet, daß ich nicht mehr darauf zurückkommen
konnte, ohne Dich bloszu
stellen. (»Wenn er mir
sein
Buch deshalb ge
schickt hat, damit ich darüber
schreibe
etc« . . . . )
Und nun Dein
Stück? Auf wann
die Aufführung? Und das neue
Stück? Und Deine
Novellen? Und,
sag’ mir
nur, warum
|bi
st Du ein
so elender Men
sch und
schreib
st mir nichts Per
sönliches
mehr? Weißt Du, daß Du mich
glücklich aus Deinem Leben herausgeworfen ha
st? Und daß Du mich auf literari
sche Diät
ge
setzt ha
st? Literari
scher Beirath! Aber Arthur! Pfui Teufel! Schäm
st Du Dich denn
gar nicht? . . .
Ich habe
Jemanden für Euren
lieben Kreis.
|Das
sympathi
sche
ste
Mitglied hat
sich aus un
serer
Redaktion losgelö
st, weil es von
Sonnemann denn doch gar zu
sehr chicanirt wurde, und i
st –
Wiener von Geburt und Erziehung
– un
ser
Wiener
Correspondent geworden.
Dr. Heinrich Kanner – Adre
sse wird Dir Dr.
Joachim sagen, oder ich
schreib’
sie Dir auf – einer der lieb
sten Leute, die mir
überhaupt be
|gegnet
sind. Kein Kün
stler
sondern
Volkswirth und
Politiker. Aber doch
vielleicht Kün
stlernatur, vor Allem aber ein wahres Ideal an Ge
scheitheit, Fein
sinn
und
Noblesse. Geh’,
setz’ Dich mit ihm in Verbindung. Wir
st Deine Freude daran
haben. . . . .
Von ganzem Herzen ein frohes neues Jahr, mein theurer Freund!
|Arbeitslu
st! Erfolg! Und vorwärts! Die allerwärm
sten
Grüße an
Loris und
Richard (
Richard soll mir
schreiben!!!). Ergebene Empfehlungen und Neujahrswün
sche an Deine
Eltern. Grüße an
Deinen
Bruder,
Kapper und wen ich
son
st noch in
Wien lieb habe,
was Du ja eben
so wohl weißt wie ich.
Und ich umarme Dich von ganzem Herzen, |in alter,
unwandelbarer, treuer Freundschaft.
Dein
Paul Goldm
Der kleinen
Else:
Handkuß, und ich hab’ die Sachen
leider
selb
st nicht mehr. Liegt auch
so weit hinter mir. Will mich auch gar nicht
mehr daran erinnern, daß ich einmal Kün
stler werden wollte und daß es kleine
Elsen in der
|Welt gibt. Das thut
so weh!
Und
sag’ einmal: Könnte
st Du nicht unter der Hand einmal und ganz zufällig
erfahren, was
Hilda macht?
Ich glaube, ich habe mich da doch wie ein Schaf benommen. Die
ses aber unter
uns.
Bald einen Brief, nicht wahr? Theils literarisch, theils persönlich!