Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 27. 10. 1891

|Dr. jur. Paul Goldmann
Correspondant de la »Gazette de Francfort«
Brüssel, 27. October 91.

Mein lieber Arthur!

Ich entschließe mich nicht leicht zum Schreiben an Dich, offen gestanden. Denn ich komme mir vor, wie ein lästiger Mahner, der eine Gefühlsschuld eintreiben will, zu deren Honorirung nicht mehr der nöthige Bestand vorhanden ist. Alle Symptome sprechen mir dafür, daß das gekommen ist, was kommen mußte: Daß ich für Euch ein Stück Vergangenheit geworden bin; und als solches habe ich natürlich weit hinter den Sachen Eurer Gegenwart zurückzustehen. Ich bin eine Erinnerung für einsame Sonntag Nachmittage geworden. . . . . 
Also einiges von mir. In Brüssel geht es mir jetzt etwas besser – moralisch wenigstens. Ich bin den Leuten hier ein klein wenig näher getreten, habe |manchen lieben Menschen, manche schöne Künstlernatur gefunden und bin mit dem Einen oder dem Andern wenn auch nicht Freund, so doch gut bekannt geworden. Sogar ein kleines Milieu junger Künstler und Lebemänner in meinem Alter, ein Milieu der Hectors und Gastons, habe ich gefunden. Am meisten verkehre ich mit Chainaye, dem jüngsten Redacteur der Indépendance Belge: enragirter Wallone und Romane, reiches künstlerisches Sentiment, Stimmungsmensch, melancholisches Talent, Verfasser mystisch-empfindsamer Gedichte in Prosa, blond, krank, geistsprühend und lustig in der Conversation bei dem Allen und – was das beste ist – mit einigen Zügen, die entfernt an Dich erinnern. Nach Besiegung des Deutschenhasses, der Verständigungsschwierigkeiten, des Mißtrauens gegen den Fremden etc. etc. bin ich ihm näher getreten. Und in diesen |Tagen stehe ich ihm rathend zur Seite bei einem großen Bruch mit seiner Maitresse, die sich zu tödten droht etc. etc. (siehe Jeannette.) Ein närrisches Ding, das Leben, – nicht wahr? Außerdem haben sich meine Beziehungen zu den Brüsseler Journalisten sichtlich verbessert. Es ist ein geradezu enormer Unterschied zwischen den Brüsseler und den Wiener Collegen. Hier sind es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – liebe, gute Burschen mit prächtigem Benehmen, voll Gefälligkeit und Liebenswürdigkeit, und manch’ eine schöne Künftlernatur ist auch hier darunter – Leute, die den Journalismus machen, um Brod zu verdienen, aber im Übrigen s’en fichent und warmen Herzens der Kunst anhängen. Ich mache hier eifrige Propaganda für die Norweger, und Tardieu, der Chefredacteur der Indépendance, der unter den interessanten |hiesigen Collegen vielleicht der interessanteste ist, hat diese meine Bemühungen sammt Citat meines Namens in der Indép. verewigt, worauf dann die Notiz mit »notre confrère le docteur Goldmann de le Gazette de Francfort« die Runde durch die Pariser Presse, vom Figaro bis zum Rappel, gemacht hat. Auch der Verkehr mit der officiellen Welt ist angenehm. Ich werde von mehreren Ministern mit allen meinem Range gebührenden Ehren empfangen etc. Außerdem ist die Stadt mit ihrem Abglanz französischen Kunstlebens recht interessant, und es gibt schöne Abende im Theater und im Concert. Endlich das herrliche Historische. Die alte niederländische Malerei. Ich beginne hier langsam zu begreifen, was das für Dinger sind, die Rubens, van Dyck und Rembrandt. Und das ist ein Quell neuer und |ungeahnter Genüsse.
Das sind die guten Seiten. Aber die bösen sind geblieben, sind vielleicht noch trostloser als zuvor, und haben nur die Gesichter zum Theil gewechselt. Keine Zukunft, keine Zukunft. Die Möglichkeit, sich ein Vermögen zu machen, existirt nicht. Mein Gehalt ist jämmerlich und wird nicht gesteigert. Die großen Pflichten, die ich gegen die Meinen habe, treten immer drohender an mich heran. Und außerdem werde ich von Seiten des Blattes genau so gemein und ungerecht behandelt, wie es mir in Wien geschehen – H. Sonnemann, der Chef und Gebieter, ist ein erbarmungsloser Blutsauger, der verlangt, daß sich seine Leute zu Tode schinden und der ihnen auch |dann noch beim kleinsten Versehen heftige Vorwürfe macht. Außerdem sitzt eine Canaille in der Redaction, ein Mensch, der mich kaum kennt, dem ich nie etwas gethan habe und der mich trotzdem haßt, Gott weiß warum. Er ist zum Unglück mein unmittelbarer Vorgesetzter, und ihm habe ich es zu danken, daß meine Ernennung für den Pariser Posten, welche im Zuge war, unterblieb, weil ich mit der Nachricht vom Tode Boulangers eine Stunde später gekommen, als die officielle Telegraphenagentur die Agence Havas! Und ähnliche Schurkereien. Ich leide entsetzlich darunter und sehne mich blutenden Herzens mehr als je nach Erlösung. Ein kleines Capital und Rückkehr nach Wien. Denn das ist nach wie vor das oberste Ziel meiner Wünsche. Es vergeht nach wie vor kein Tag, |wo ich nicht zehn-, zwanzigmal an Dich und die theure Stadt denke. Und als das Orchester der Pompiers Sonntag die Straßen mit dem Schrammel-Marsch durchzog, lief ich hinterher und wischte mir, wie der bekannte Vater im Singspiel, die Thränen mit dem Rockärmel ab. Aber ich habe keine Hoffnung. Mein Leben wird in harter Sklaverei verfließen, fern von Allem, was ich lieb habe; und zu großen befreienden Werken habe ich weder das genügende Talent, noch die genügende Energie. . . . . 
Wollte ich nun alle die Fragen aufschreiben, die ich an Dich zu richten habe, es ginge noch ein Briefbogen darauf. Aber ich thue es nicht; denn ich weiß, daß du mir sie eh’ nicht beantworten wirst. Der lange Brief von Dir, der nicht kommt, sagt mir viel mehr, als einer, der gekom|men wäre. Du hast Recht, mein lieber Alter; es gibt auch in der Freundschaft »Episoden«. Jeder verbraucht halt in seinem Leben eine gewisse Anzahl Menschen, und von mir ist nur mehr der letzte Bodensatz vorhanden. Dir ist kein Vorwurf zu machen. Es ist die Natur, die es so eingerichtet, daß das Vergessen in der seelischen Welt genau so mechanisch und nothwendig und mit denselben Endzwecken vor sich geht, wie das Verdauen in der körperlichen. . . . 
Mir brennt das Gewissen oft, wenn ich daran denke, daß ich Loris und Richard noch nicht auf ihre Briese geantwortet habe. Aber mir lähmt der Gedanke die zum Schreiben angesetzte Hand, daß sie, wenn sie meinen Brief erhalten, die Empfindung haben könnten: was will der Mensch eigentlich von mir? Grüße die Zwei bitte viel |tausend Mal von mir und sage ihnen in meinem Namen alles Liebe und Gute, was sich finden läßt. . . 
Deinem Bruder und Kapper herzlichste Grüße. Den Deinen ergebene Empfehlungen. Dir selbst – schweres Problem. Ich möchte Dir am Liebsten meinen Segen geben, so abgeschieden komme ich mir Dir gegenüber vor.
Dein
treuer
 Paul Goldmann.
Drei Bitten 1.) sag’ doch dem Schuft, dem Dr. Joachim, wenn er die ihm geschickte kleine Arbeit nicht brauchen kann, ssoll er mir sie augenblicklich zurücksenden, weil ich Verwendung |dafür habe; auch soll er mir dasjenige Heft der »Modernen Dichtung« (nicht Rundschauschicken, in dem Aphorismen von mir erschienen sind; ich brauche sie dringend und zahle eventuell dem Buchhändler dafür 2.) hast Du eine Ahnung, was zwischen  Herzl und seiner Frau vorgegangen? 3.) Weißt Du vielleicht – nicht lachen, bitte! – den Namen einer guten  Truppe Tiroler Sänger, an welche man sich wenden könnte, um sie zu einer Reise nach Brüssel zu veranlassen?
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