Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 4. 8. 1891

|Brüssel, 4. August.

Mein lieber Arthur!

Der Himmel allein weiß, wieviele Briefe ich Dir inzwischen geschrieben habe. Das Unglück wollte nur, daß ich nie dazu kam, einen davon auf’s Papier zu bringen. Daß seit meinem Fortgang aus Wien auch nicht ein Tag vorübergezogen ist, an dem ich Deiner nicht gedacht, ist ebenso buchstäblich wahr, als es phrasenhaft erscheint. Das Maß meiner Berufsarbeit ist mehr als menschlich; aber ich freue mich dessen und suche eher zu mehren als zu mindern; ich bedarf wahrer Arbeitsbachanale, um an mich selbst zu vergessen, was mir trotzdem nicht völlig gelingt. In Familien- und Geschäftsangelegenheiten habe ich vor 14 Tagen nach Frankfurt reisen müssen; und da mir der Chef des Blattes die Aufgabe zuertheilte, über die dortige elektrische Ausstellung zu schreiben – stell’ Dir vor! – gingen mit dieser widerlichen Arbeit auch noch die acht Tage nach der Rückkehr zum Teufel. Heut ist ein Tag nach einer auf Posten durchwachten Nacht (die Königin ist erkrankt und man erwartete stündlich die Todesnachricht). Zum Schlafen bin ich zu nervös, zum Arbeiten zu müde, |und nachdem ich mich soeben eine Stunde in tausend qualvollen Gedanken auf dem Ruhebett gewälzt, flüchte ich mich vor meinen Dämonen in Deine Nähe, die sie so oft gebannt hat. Und so wird denn der längst geschriebene Brief nunmehr wirklich geschrieben . . . . .
Keine Spur von Wohlbefinden hier, mein lieber Arthur! Äußerlich freilich sieht sich die Sache recht gut an. Ich habe Erfolg und Zufriedenheit von meinen Vorgesetzten her; und ich bin in guten Beziehungen zur officiellen Welt, zu Ministern, Deputirten und allerlei sonstigem hohen Gethier. Aber es ist klar, daß es nicht genügt, um den Wärmebedarf eines weichen Herzens herzustellen, wenn man von Ministerpräsidenten empfangen wird. Alles Übrige aber, was ich von der Brüsseler Bevölkerung kennen gelernt, ist eiskalt und abweisend dem Fremden, zumal dem Deutschen gegenüber. Die Leute haben zwar insgesammt vollendete Formen; aber ich habe in meinem Leben nicht so erkannt, was die Höflichkeit für eine unbesiegliche |Waffe ist gegen den, demgegenüber man sie anwendet. Die Leute hier verstehen die Kunst, sich Einem mit Händeschütteln vom Leibe zu halten. Das gilt ganz im Speciellen von den journalistischen Collegen. Es sind zwar vollendete Gentlemen im Äußern – wie Tag und Nacht gegenüber dem Wiener Gesindel – aber falsch, unverläßlich, verlogen sind sie zu gleicher Zeit. Ich bin demgemäß nach wie vor völlig isolirt. Ein paar äußerliche Beziehungen dienen eher dazu, mir meine Einsamkeit noch fühlbarer zu machen, als sie abzuschwächen. Meine Abende verbringe ich meist allein, meine Sonntage gleichfalls – in der Regel trifft man mich zu jeder Tageszeit an meinem Schreibtisch. Deine Frage nach »interessanten Frauen« übergehe ich mit stiller Heiterkeit. Straßendirnen, die, weil sie kein Anderer mag, mit dem häßlichen und ungeschlachten Fremden gehen müssen und die ihn dafür ausplündern, wie ein Heuschreckenschwarm, der einen Acker überfällt – das ist meine |weibliche Welt. Liebelos und freudlos – das ist die Firma, unter der mein Leben sein Geschäft fortführt. Ich sehne mich namenlos nach Wien und nach Dir und dem andern, was mir dort theuer ist, zurück – namenlos! Und ich habe eine Zeit der heftigen Empörung gegen das Schicksal gehabt und an den Stäben des Käfigs gerüttelt. Ich habe in Frankfurt erklärt, daß ich unter allen Umständen nach Wien zurück will. Aber keine Aussicht. Unser Chefredacteur verachtet Wien und Österreich aufs Tiefste und hält es nicht der Mühe für werth, dort einen anständigen Correspondenten-Posten zu etabliren. Und dann kam mein Onkel mit seiner harten Pflichtlogik: man ist in Wien glücklich, zugegeben! aber der Mann, der für sein und seiner Familie Fortkommen sorgen soll, hat nicht das Recht, glücklich zu sein. . . . Dabei fällt mir etwas ein: der Pariser Correspondentenposten der »Neuen Freien Presse« ist durch Singer’s Berufung nach |Wien freigeworden; man hat es mir hier nahegelegt, mich darum zu bewerben; aber ich habe es nicht gethan. Wenn Du aber am Ende irgendwie – ohne daß natürlich Jemand eine Ahnung von meiner Bewerbung haben dürfte! – in dieser Richtung etwas wirken könntest, so wäre ich wohl recht einverstanden; das wäre immerhin ein Schritt in der Richtung nach Wien. Aber das ist nur so eine Idee! Fällt Dir nicht gleich etwas Wirksames diesbezüglich ein, so gib’ Dich, bitte, nicht weiter damit ab! . . . . Dein lieber Brief, der meine Arbeiten lobt, hat mich unendlich gefreut. Ich danke Dir für die Minute des Stolzes, die Du mir damit bereitet. Du weißt, ich rechne Dich zu meinen strengsten und unfehlbarsten Richtern. Habe ich wirklich etwas Gutes geschrieben, so war es kein Kunststück. Jene Tage in Holland waren von unvergeßlicher Schönheit und brachten eine Fülle von Eindrücken, die tief, aber tief sich in’s Herz gruben. Ich glaube, in diesen Tagen ist mir zum ersten Mal das Licht darüber aufgegangen, was die Malerei ist. Die Wärme freilich, mit der Du schreibst, ist viel mehr |ein Compliment für Dich als für mich. Treue Herzen wie das Deinige sind solche, die in der Welt wohl noch hie und da vorhanden sein mögen, die man aber nur einmal findet . . . . Und dann das zweite Brieflein! Am Morgen um vier Uhr kam ich von Frankfurt heim – mit fieberndem Kopfe und brennenden Augen, nach einer schlaflosen Nachtfahrt. Und in dem grauen Morgenzwielicht, beim Schein einer blinzelnden Kerze las ich Deinen Brief. Mein Herz war eiskalt vor Verlassenheit und schrie förmlich vor Sehnsucht, als aus diesen mit Bleistift gekritzelten Zeilen die süße Vision des Wiener Sommerabends mit Frauen- und Blumenduft aufstieg. Es war vielleicht ein vom Champagner geschaffener Einfall, der diesen Brief geschrieben. Aber in diesem trostlosen Morgen, in diesem Zimmer eines Verbannten wurde daraus eine Offenbarung von Freundestreue und holder Frauengüte. Küsse die kleine Goldelse für mich auf Mund und Augen! . . .
|Und nun zu Dir, mein lieber Arthur! Von ganzem Herzen habe ich mich über den im Freundeskreise errungenen Erfolg Deines Stückes gefreut. Dein letzter längerer Brief, in dem Du mir das mittheiltest, schien mir auch die schönste Frucht dieses Erfolges bereits zu enthalten: nämlich Lust zum Produciren. Dabei fällt mir ein, daß mir mein Onkel erzählte, Du habest ihm eine Geschichte von »seltener Schönheit« (wirklich!) geschickt, er habe sie aber leider aus Sittlichkeits-Gründen nicht veröffentlichen können. Ich habe serner während meines Frankfurter Aufenthalts Gelegenheit genommen, mit dem spiritus rector des Frankfurter Theaters, Herrn Schönfeld, von Dir zu sprechen. Ich habe Dich, diplomatisch, als einen Mann geschildert, der die herrlichsten Werke schafft, um nichts in der Welt aber dazu zu bringen ist, dieselben herauszugeben, so daß er ganz begierig wurde, etwas von Dir zu sehen. Willst Du ihm etwas schicken, so bist Du eingeführt; freilich ist der genannte Herr ein jämmerlicher |Banause. An Burckhard aber solltest Du Dich absolut wenden – noch nicht mit dem großen Dramasondern vorerst mit dem Alkandi! Willst Du, sschreibe ich von hier aus an ihn und erbitte mir als einzige Gefälligkeit für die erwiesenen Dienste, daß er Dir seine Aufmerksamkeit zuwendet; das kann er mir nicht abschlagen. An meinen Onkel solltest Du baldmöglichst etwas wieder schicken; er wünscht nichts Besseres, als Dich drucken zu können. Die Novelle möchte ich gar gern mit Dir schreiben; aber für’s Erste habe ich keine Zeit; wenn Du also irgendeine Lust hast, sie allein zu machen, so warte nicht mehr auf mich. Die Gründung der »Freien Bühne« mit dem Streber Wengraf an der Spitze mißfällt mir durchaus; an die Stelle des Vicepräsidenten hätte Niemand Anderer gehört als Du; und wäre ich in Wien gewesen, so würde ich auch dafür gesorgt haben, daß die Sache |so gekommen wäre. Offen gestanden – wie die Sache sich jetzt ausnimmt, habe ich kein großes Zutrauen; es sind zuviel kleine persönliche Ehrgeize dabei, die befriedigt werden wollen, als daß für die Idee Platz wäre. Du weißt ja: ein kleiner Ehrgeiz ist immer stärker als eine große Idee; und wenn die Zwei sich verbinden, so wird die Letztere stets betrogen. Immerhin, wenn das Unternehmen wenigstens Dir eine größere Publicität bringt, wenn es Dich der großen Menge zuführt, so bin ich’s zufrieden. Vor Allem aber schreibe, schreibe und schreibe und schaffe Vorrath für den Tag, da man kommen wird, Dich suchen. Den dritten Act möchte ich für mein Leben gern lesen. Aber es ist Dir wohl zu umständlich, mir ihn über die hundert Meilen herüber zu schicken? Wenn Schwarzkopf sagt: zum Mindesten eine literarische Arbeitso bin ich damit nicht zufrieden; ich stelle höhere Ansprüche an Dich; Du kannst, wie ich weiß, und darum sollst Du |lebendige Dramen schreiben und keine Buch-Theaterstücke. Ich pfeife auf den literarischen Werth. In Dir steckt echtes Bühnenleben; und so lange Du das nicht voll aus Dir herausgeschaffen hast, so lange hast Du kein Recht, stillzustehen und auszuruhen. Auch möchte ich mir die Sache an Deiner Stelle anderseits nicht leicht machen durch die Erfindung der Dramen nach den neuen Gesetzen. Von Sophokles bis Sardou gibt es nur eine Art der dramatischen Wirkung; und jede Wirkung die anders ist, ist eben keine dramatische. Folg’ mir, gehe den geraden, von den großen Meistern gezeigten Weg und suche keine neuen Pfade, die nur in die Irre führen; wenn irgend Einer auf diesem Wege zum großen Erfolg zu gelangen die Kunst hat – und auf all’ diesen Seitenwegen gibt es das nicht, den großen Erfolg – so bist Du es. Also falle nicht in |die Versuchungen des Guten, die vom Besten ableiten . . . . .
Dein Gefühlsleben – ich bitte um einen kleinen Abriß davon. Besonders über Deine Liebe (das banalste Wort ist doch hier das wenigst verletzende). Wo ist das Fräulein jetzt? Wo siehst Du sie und wie oft? Was macht die Eifersucht auf die Vergangenheit? Und ist – aber ganz ehrlich! – noch keine Abnahme der Leidenschaft zu spüren? – Was macht Madame la Mondaine?
Sag’ mir, liebster Freund: kannst Du deine Sommerpläne nicht so entwerfen, daß Du auf ein – zwei Wochen an’s Meer kommst? Ist gar keine Möglichkeit vorhanden, daß ich Dich in den folgenden Monaten irgendwo sehen kann?
Schreib’ mir ferner, mit wem Du jetzt verkehrst, wo Du Deine Abende zubringst, was |die Freunde machen, wie es bei Dir zu Hause geht und was es sonst Neues gibt?
Ich danke Dir tausendmal für all’ das Liebe, womit Du mich hier in meiner Einsamkeit erfreut hast, und grüße Dich von ganzem Herzen
Dein treuer
Paul Goldmann.
Mit dem Französischen geht es mir elend; ich mache absolut keine Fortschritte.
Empfiehl’ mich den Deinen, grüße mir Kapper und Deinen Bruder.
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