Stefan Zweig an Arthur Schnitzler, 12. 11. 1912

Wien, 12. Nov 12
 

Verehrter lieber Herr Doktor,

mit ungemeiner Freude habe ich Ihren »Professor Bernhardi« empfangen, mit Leidenschaft ihn sofort gelesen und eigentlich noch immer nicht aus der Hand gelegt, wiewohl ich schon längst bei der letzten Seite war und wieder mitten darin und wieder am Ende. Aber es ist ja unsere engste Welt, die sich hier auftut, weit freilich, unendlich weit, bis man den Himmel der grossen seelischen Gerechtigkeit über ihr mit allen guten Sternen sieht. Ich weiss nicht, ob ich Ihnen etwas Liebes damit sage, aber meine Empfindung will doch aufrichtig sein: |ich spürte im ersten Lesen gar nicht mehr, dass dies ein Drama ist, ein Theaterstück, ein Kunstwerk, ich spürte nur lebendigstes Leben, das mich ergriff wie ein fait divers der Zeitung, ein politischer Fall, spürte erst nur menschliche Empörung, Freude, Hass und Liebe. Dann später erst kam das Besinnen, dass dies Gestaltetes, Verwandeltes, Kunstwerk und nicht unmittelbares Leben ist. Und immer habe ich noch keine Ruhe, um den Bernhardi als Kunstwerk oder gar auf den Theatererfolg hin betrachten zu können, ich bin zu passioniert davon, zu sehr mit Sympathie und Zorn gegen und für seine so herrlich lebendigen, so atemnahen Menschen. Nostra ipsissima res agitur – ich spür es zu sehr und |kann gar nicht recht heraus, mir's zu betrachten, so sehr bin ich darin. Jedesfalls: Sie haben nie eine grössere Scene geschrieben als die im vierten Akt zwischen dem Geistlichen und Bernhardi, es ist die Grossinquisitorscene Ihres dramatischen Werks, ganz weit blickend, hart und doch voll Güte, gross in jedem, im menschlichen, im künstlerischen Sinn. Nie waren Ihre Menschen lebendiger, nie Sie selbst dichterisch so weit, das spüre ich mit Beglückung und – verzeihen Sie! – mit Stolz, denn man darf doch niemandem versagen, auf die stolz zu sein, die man liebt.
Dramaturgisch den Bernhardi zu betrachten, vermag ich noch nicht, ich sagte es ja, er ist noch zu heiß in mir. Aber ich weiß, solchen letzten menschlichen Entäußerungen kann nie |die Bewunderung fehlen. Ich weiß Ihr Werk wird wirken (im banalen bühnentechnischen Sinn und um wie viel mehr in höheren!), ich werde jedesfalls in Berlin bei der Première sein, sobald ich das Datums erfahre und eine Einteilung zu treffen vermag. Denn ich möchte nicht fehlen, wenn ein solches Werk aus Buch zum Wort und vom Wort zur lebendigen Wirkung wird.
Viele Grüsse Ihrer verehrten Frau Gemahlin! Innigst getreu und mit frohem Glückwunsch
Ihr
 Stefan Zweig
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