Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 10. 12. [1897]

Fondateur M. L. Sonnemann.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour. Paris, 10. December.
Bureau à Paris

Mein lieber Freund,

Endlich ein freier Augenblick! Ich habe eine Reihe furchtbar aufgeregter Tage hinter mir. Die Geschichte fing an mit einem Artikel von Millevoye, der mich mit Koth bewarf. Ich lege ihn Dir bei, damit Du siehst, welchen Ton die Polemik in diesen heißen Tagen angenommen hat und was man sich Alles sagen lassen muß, wenn man ruhig und bescheiden für seine Überzeugung eintritt. Sonntag kam der Einbruch, von dem Du wohl in den Blättern gelesen hast. Man hat mir meine Briefe gestohlen, |Briefe von meiner Familie und von Dir. Wahrscheinlich war der Einbruch eine verkleidete Haussuchung. Irgend ein officieller Dummkopf hat vielleicht geglaubt, daß er bei mir Documente zum Fall Dreyfus finden könnte oder documentarische Beweise für die Existenz des famosen »Syndicats« (das nie existirt hat). Tagelang hat sich hier die Presse mit mir beschäftigt, und obwohl kein böses Wort gegen mich gefallen ist, so ist es doch unheimlich, als Deutscher in so leidenschaftlich bewegter Zeit im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.
|Endlich also kann ich ein wenig aufathmen, und endlich kann ich Dir Deinen so lieben und schönen Brief beantworten. Ich habe mich von Herzen über Deine Prager Erfolge gefreut. Es ist gut, daß das Alles noch vor die Zeit des Aufruhrs gefallen ist, sonst wäre es für Dich auch recht ungemüthlich in Prag geworden. Mich erstaunt nur, daß Du Dich sonst nicht wohler dort gefühlt hast. Denn es soll eine sehr schöne Stadt sein.
Für Deinen Bericht über das kleine Fräulein danke ich Dir von ganzem Herzen. Er hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Deine Beobachtungen |sind zweifelsohne richtig, Deine Schlüsse nicht weniger. Es wäre vielleicht sehr unklug von mir, wenn ich irgend etwas thäte. Ich werde auch wahrscheinlich nichts thun. Aber anderseits übt gerade diese halbe Kindlichkeit auf mich einen ungeheuren Reiz aus. Du meinst, das sei Perversion. Ich weiß es nicht, aber der Reiz besteht. Und er wird hundertfach verstärkt durch das Pariser Leben. Wenn man so Jahre lang mitten unter Raffinement und Prostitution gelebt hat (wie es das Loos des Fremden in Paris ist), so bekommt man eine unendliche Sehnsucht nach |Einfachheit und Reinheit. Und wenn man außerdem noch zum poetischen Träumen  angelegt ist, so liebt man die unfertigen Dinge. Die Poesie besteht darin, daß man den Dingen etwas hinzufügt. Das ist der Reiz des halben Kindes für den Träumer, und darum bleibt ihm die fertige Frau gleichgiltig. Nebenbei gesagt übrigens: Welche Frau ist überhaupt fertig?
Bitte, liebster Freund, schreib’ mir bald. In dieser |Welt voll Feindseligkeiten sehne ich mich sehr nach einem guten Worte von Dir.
Fragen, die besonders zu beantworten wären: Was macht Deine Freundin? Wie steht es mit Deinem neuen Stück? Und was ist mit dem Stück von Burckhardt, welches der alberne Bahr mit Shakespeare vergleicht?
Sei von Herzen gegrüßt.
Dein treuer
Paul Goldmann.
Bitte, grüße doch auch einmal Frau Altmann und deren |Söhne, wenn Du sie siehst.
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