Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 19. 11. [1897]

Fondateur M. L. Sonnemann.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour.
Bureau à Paris Paris, 19. Nov.

Mein lieber Freund,

Ich schreibe Dir heut nur in Kürze, um mich zu entschuldigen und Dir für Deine Nachsicht zu danken. Seit Wochen warte ich vergebens auf eine freie Stunde, um Dir zu schreiben. Seit ich Deinen letzten, sschönen und ergreifenden Brief mit der traurigen Nachricht erhielt, vergeht kein Tag, wo ich nicht mit der Absicht aufstehe: Heut wird geschrieben. Aber die Ereignisssind erbarmungslos und lassen mich nicht zu Athem kommen. Du kannst Dir nicht vorstellen, welche Zeit wir |hier durchmachen. Es geht zu wie im Tollhaus. Seit Wochen leiste ich übermenschliche Arbeits-Anstrengungen. Du verfolgst ja vielleicht auch von fern das Wiedererwachen der Affaire Dreyfus. Seit ich Journalist bin, habe ich etwas so Aufregendes nicht miterlebt. Es wird allmälig eine Krisis daraus, die das ganze Land zu ergreifen beginnt. Es herrscht eine Fieber-Athmosphäre, und wenn man da mitten drin lebt und außerdem die Pflichten des Berufes erfüllen, das heißt sich Meinungen bilden und das Publicum informiren muß, und wenn man außerdem eine persönliche |Stellung in der Angelegenheit eingenommen hat und keinen Tag die Zeitungen in die Hand nehmen kann, ohne fürchten zu müssen, sich als Spion oder Verräther entehrt zu sehen, – wenn das Alles und noch mehr auf Einen einstürmt, so kannst Du Dir denken, in welcher Gemüths- und Nerven-Verfassung man sich befindet. Die Ruhe, um auf Deine so lieben und schönen Briefe auch nur annähernd in einem entsprechenden Tone zu antworten, ist unmöglich zu finden. Nachdem |Du mir solange verziehen hast, verzeihst Du mir wohl noch ein wenig, bis endlich, endlich die Stunde der Sammlung kommt, um Dir den seit Wochen geplanten langen Brief zu schreiben.
Und nun habe ich noch eine große Bitte. Mit der Familie B. in Prag unterhalte ich eine Correspondenz. Die Mutter scheint eine blöde Gans zu sein, das Mädchen aber ist wohl ein liebes Kind. Ich kann mir kaum denken, daß alle Träume, welche ich seit dieser kurzen Ischler Bekanntschaft in mir herumtrage, jemals |zu Wirklichkeiten werden sollten. Aber es ist mir eine Wohlthat, hier in der Heimatlosigkeit, in dieser Hölle von Anstrengungen und Aufregungen, an ein liebes Mädchen-Gesicht denken zu können, wie an eine Hoffnung. Darum bitte ich Dich recht sehr: Geh’ zu den Leuten hin (Mariengasse 45), schau Dir an, wer sie sind, höre auch, was die Anderen über sie sagen, und, wenn Du es für gut findest, sprich ein freundliches Wort über mich. Jedenfalls |aber sende mir einen recht ausführlichen Bericht! Ja? Das ist ein wahrer Freundschaftsdienst, den ich verlange.
Ich wünsche Dir von Herzen Glück zu Deiner Vorlesung und Deiner Première in Prag und grüße Dich Tausend Mal in Treue
Dein
Paul Goldm
Ich schreibe in höchster Eile und kann Dir nur mit einem |Wort sagen, wie sehr mich die Nachricht vom Tode der armen Frau ergriffen hat. Wieder ein Stück Jugend unwiederbringlich verloren! Wie sich um uns herum die Vergangenheit auszudehnen beginnt, das Gewesene, – das nie mehr wieder sein wird, – das bereits verbrauchte Leben! Und diese Ärmste, die fort mußte, ehe sie sich ausleben gekonnt, die wahrscheinlich erwartete, daß das Eigentliche noch kommen würde! Wie man sich also darauf vorbereiten muß, daß das Ende eines |schönen Tages kommen kann, ohne daß man Zeit gehabt hat, auch nur mit irgend etwas fertig zu werden! Und dann, ohne lange Worte: die arme, liebe, schöne Frau!!
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