Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 23. 12. [1897]

Fondateur M. L. Sonnemann.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour.
Bureau à Paris Paris, 23. December.

Frohe Weihnachten, liebster Freund!

Mit Deinem Auge geht es wohl besser? Dein letzter lieber Brief war recht verstimmt. Freilich, mit einem Absceß im Augenlid sieht sich das Leben nicht schön an.
Und doch hat mich Dein letzter Brief nachdenklich gemacht. Du darfst mir nicht hypochondrisch werden! Und wenn es Dir schon im Ohre klingt! Muß man denn ganz gesund sein?! Wer von uns ist gesund? Man lebt und leidet eben. Ist das nicht eine alte Geschichte? Und lebt man deshalb weniger, weil man leidet? Eher mehr.
|Bei alledem glaube ich Dir Deine Krankheit gar nicht. Du hast das, weil Dir, Gott sei Dank, nichts Ernstes fehlt. Du hast viel Gutes und Herrliches schon genossen, Du bist ein wenig abgestumpft geworden gegen all’ die schönen Dinge in Deinem Leben, das Errungene bildet darum kein rechtes Gegengewicht mehr gegen die Melancholie, die von Natur aus in dir wohnt, und ich glaube fast, daß die Hypochondrie bei Dir eine Form der Blasirtheit ist.
Aufgeschüttelt werden müßtest Du, heraus müßtest Du aus Deinem behaglichen Wiener Nest, heraus in die Kälte, in die Fremde! Es ist ganz natürlich, daß Du so, im gleichmäßigen |Weiterschreiten, das Bewußtsein der Kräfte verlierst, die in Dir wohnen.
Wie darfst Du sagen, daß Du nicht an Deine Zukunft glaubst?! Wer hat Zukunft, wenn nicht Du?! Nur muß die Zukunft von selbst erwachsen, als natürliche Frucht einer kräftigen Gegenwart. Ruhig leben, seine Kraft stärken, ausreifen lassen, was reifen soll, und keine Ungeduld! Wenn man natürlich sich jeden Tag hinsetzt und seine Zukunft machen will, so geht es nicht. Auch hier gibt es eine psychische Impotenz. Nein, sei ruhig und Deiner selbssicher (weiß Gott, Du kannst es!), |wenn es mit dem Produciren nicht geht, so leg’ es ein wenig beiseite, schaffe Dir schöne Tage, und laß’ aus Tagen und Tagen ganz unmerklich die Zukunft werden! . . . . 
Übrigens, was rede ich? Wenn Du diesen Brief bekommst, bist Du sicherlich bereits in ganz anderer Stimmung, wie damals, wo Du mir den Brief schriebst, der vor mir liegt.
Keiner von Deinen Briefen aus den letzten Monaten ist mir gestohlen worden. Sei ganz beruhigt! Es handelt sich um einige wenige Briefe früheren Datums, in denen sicher nichts Wichtiges oder besonders Vertrauliches steht.
|Was ist mit dem Burgtheater? Also hat es den Burckhardt doch ereilt? Ich wundere mich nur, daß ich nicht den Bahr unter den Directions-Candidaten lese. Der Kerl hat in Wien  den schlechten und faulen Boden gefunden, in dem allein er gedeihen konnte, und er gedeiht. Er wird großer Pontifex werden, und ich denke, in ein paar Jahren wird man ihm auch das Burgtheater anbieten. Eines Tages werden dann vielleicht auch andere Leute entdecken, daß er ein unehrlicher und unverständiger Mensch ist, aber dann wird es zu spät sein.
|Dir sollten sie das Burgtheater geben. Ich wüßte in der Welt keinen besseren Director. Schlenther? Wäre das der Richtige? Dieser Berliner und Protestant, der wahrscheinlich ein kluger Mann, aber sicherlich ein kalter und unkünstlerischer Mann ist?
Bitte, grüß’ mir Deine Freundin recht herzlich. Ich bringe es nicht fertig, ihr irgend etwas von meinen Arbeiten zu schicken. Ich weiß, daß das, was ich schreibe, der Vergessenheit verfallen ist, und dieses Bewußtsein lähmt mich so, daß ich nicht einmal die Kraft habe, einen Artikel |herauszusuchen und ihn auf die Post zu geben. Ich bin eben ein Journalist und nichts Anderes. Frage nur den Herrn Bahr und seine Bande, sie werden es Dir schon sagen.
Was macht Richard? Isseine Novelle beendet? Ich fürchte sehr, daß es dem Helden einfallen könnte, zum Schluß noch von einem anderen Tempel zu träumen, und das würde dann wieder ein bis zwei Jahre dauern. Und Mirjam? . . . . 
Ich habe arge Wochen durchgemacht und fürchterlich gelitten. Es isschlimm, Beschimpfungen ertragen zu müssen, |ohne sich wehren zu können, und zu fühlen, wie rings um Einen das Mißtrauen schleicht. Und dabei ganz allein, im fremden Lande, ohne Freund, ohne ermuthigenden Zuspruch! Und nichts thun können, als einfach ruhig bei seiner Überzeugung bleiben. Man muß stillstehen und seine Pflicht thun, und in dieser harten Pflichterfüllung ist keinerlei Ruhe zu holen. Nichts als Schläge, und bitterer Zweifel im Innern! Und doch, ich kann mich nicht entschließen, jede Hoffnung aufzugeben. Auf der einen Seite die Wahrheit, auf der anderen Seite ein ganzes Volk. Es ist nicht gesagt, |daß das Volk der stärkere Theil sein muß.
Ich habe Paris satt über alle Maßen. Ich möchte so gerne fort, aber meine Zeitung will es bisher nicht zugeben. Es ist ihnen so bequem, mich als Arbeitsthier hier zu haben.
Nicht wahr, liebster Freund, Du schreibst mir bald?
Und nochmals von Herzen fröhliche Feiertage!
In Treue
Dein
 Paul Goldmann
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