Stefan Zweig an Arthur Schnitzler, 13. 12. 1909

Wien, 13. Dez 09
 

Sehr verehrter Herr Doktor,

ich hatte gestern die Freude, der erfolgreichen Aufführung Ihres »Ruf des Lebens« beizuwohenen. Es wäre ungeziemend wollte ich mir eine Bemerkung über das Wesen und den Wert des Stückes zu Ihnen ungefragt gestatten, aber das darf ich Ihnen wohl sagen, dass ich vielleicht niemals von einem Ihrer Werke im Theater einen so gewaltigen und wirklich die letzten Erschütterungen aufwühlenden Eindruck empfunden habe. Sie bedürfen heute längst nicht mehr einer Zustimmung – am wenigsten von uns, die wir alle an Ihnen zu lernen haben – aber eben, weil diesem Stück soviel Missverständnis – feind|lich oder auch freundlich – gegenüber stand, möchte ich Ihnen sagen, dass ich das Gefühl gänzlichen Einverständnis hatte. Ich habe wie selten hier die Gefühle in einer nahen und doch nicht schamlosen menschlichen Körperlichkeit gefühlt und den ungeheuren Raum wirklich mit einem süssen und bezwingenden Schrecken aufgerissen gesehen, der zwischen dem intensivesten Leben und dem Nichts plötzlich aufspringen kann. Nie, soweit ich Ihr Werk überschaue, haben Sie eine ähnliche Gewalt über das Schicksal gezeigt und ich wäre froh, wenn Sie sich dieses Stück nicht um ein paar theatralischer Dinge willen jemals verärgern oder minder lieb haben liessen. Ich werde Ihnen immer dafür dankbar sein und ich glaube, immer mehr werden sich finden, die es so fühlen werden: nicht um des Gesagten willen, der Worte und der Menschen sosehr, sondern um der ungeheuren Vitalität willen, die aus jedem Wesen darin atmet. Diese feindliche Um|schlingung von Leben und Tod, die feurige Secunde ihres Einswerdens in der Leidenschaft wird mir unvergesslich eine der schönsten Erinnerungen an den Abend sein.
Nehmen Sie also innigen Dank für dieses Werk, das alte Liebe und Verehrung bei mir nur vermehrt, bekräftigt und vertieft hat. Wie freue ich mich Ihrem nächsten entgegen!
In herzlicher Ergebenheit
 Stefan Zweig
    Bildrechte © University Library, Cambridge