Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 4. 12. [1901]

Berlin, 4. Dezember.

Mein lieber Freund,

Zolltarif im Reichstag. Ich habe keine freie Minute.
Tausend Dank für Deinen lieben Brief.
Über Deine Auslegung, daß Hauptmann eine geistige Krankheit durchmacht, habe ich den Kopf geschüttelt. Warum eine Erklärung |an den Haaren herbeiziehen? Warum das Eigentliche nicht sehen wollen? Wenn Einer geistig leer ist, so ist er immer geistig leer gewesen. Man kann ein Stück verfehlen, man kann aber nicht auf einmal weder Geist noch Talent haben. Und was Deine Ansicht betrifft, Hannele sei für »alle Zeiten« ein schönes Stück, ssprichst Du im Namen von »allen Zeiten« ein künstlerisches Urtheil aus, zu dem »alle Zeiten« Dich gewiß |nicht ermächtigt haben.
Wann kommst Du? Ich freue mich sehr darauf, Dich wiederzusehen.
Hast Du Hirschfelds Feuilleton in der Frkf. Ztg. gelesen? Wenn das Jung-Wiener Theater so erbärmlich war, wie es darin geschildert wird, so kann ich auch der N. Fr. Pr. und dem alten Neuda nicht Unrecht geben.
Ich sende Dir einen Ausschnitt |aus einem Referat Perfalls in der Kölnischen Zeitung, nur damit Du siehst, daß es außer Herrn Ebermann auch noch andere Leute gibt, die meine Ansicht theilen.
Viele treue Grüße!
Dein
Paul Goldmann.

Hauptmanns Niedergang und die Berliner Litteratur-Tyrannei. In der »Kölnischen Zeitung« lesen wir: » Der Mißerfolg des ›roten Hahns‹, der dem Mißerfolge des ›Michael Kramer‹ folgt, läßt kaum noch die Hoffnung übrig, daß Hauptmann über seine früheren Werke zu einer großen Dramatik aufsteigen wird. Es ist vielmehr ziemlich sicher, daß er bestenfalls sich noch einmal auf halber Höhe aufrichtet, aber der Hauptmann, über den eine ganze Litteratur entstanden ist, der Hauptmann, in dem man die Zukunft des Deutschen Dramas ahnen wollte, dieser Hauptmann ist gewesen, und die deutsche Litteratur geht über ihn hinweg, weil sie schon über manchen kurzlebigen Stern, der an dem Theaterhimmel glänzte, hinweggegangen ist. Aber Hauptmanns Niedergang bedeutet, wie die Dinge einmal liegen, noch mehr. Hauptmann war ohne seinen Willen der große Neuerer, um den sich ein ganzes Programm, eine ganze Bewegung gebildet hat; er war der heimliche Diktator der deutschen Theaterlitteratur. Das alles hat ein Ende, und mit ihm bricht ein Gebäude zusammen, in dem eine ganze Schar schwächerer, aber sehr lauter Geister Obdach gefunden hat. Der Durchfall des ›roten Hahns‹ ist so etwas wie ein litterarischer Börsensturz, wie eine Katastrophe, die ihre Wirkung ausüben muß, wenn auch noch frecher als nach dem ›Michael Kramer‹ der Versuch gemacht werden sollte, das deutsche Publikum über die Wahrheit zu täuschen. Die Berliner Litteratur-Tyrannei hat am 27. November ihr Ende gefunden.« –
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