Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 5. 1. [1895]

(Gazette de Francfort). Paris, 5. Januar.
Fondateur M. L. Sonnemann.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour.
Bureau à Paris:

Mein lieber Freund,

Ich danke Dir von Herzen, daß Du meine Bitte so rasch erfüllt hast. Entschuldige nur die großen Kosten, die ich Dir verursacht; aber Du hast mir eine große Freude gemacht. Mittags bekam ich es, in einer Stunde war es gelesen, und am selben Tage sende ich es Dir noch zurück.
Da ich sofort schreiben muß, bin ich meiner Eindrücke noch nicht ganz sicher. Der erste Akt ist voll Anmuth, voll Bewegung, er endet aufs |Packendste. Ich glaube, er wird sehr gut gespielt werden müssen. Die zwanglose, natürliche Fröhlichkeit stellt den Komödianten keine leichte Aufgabe. Auch möchte ich gleich hier sagen, daß ich besonders diese einfache Sprache überall bewundert habe. Die Leute sprechen im Stück, wie im Leben. Welch’ eine Kunst da drinsteckt! Im zweiten Akt – und auch sonst – hätte ich gern, daß der alte Weiring etwas mehr hervorträte, als blos mit ein wenig Profil. Ich hätte ihn etwas ausführlicher gewünscht, eine kleine Scene rührender Vaterliebe zwischen ihm und dem Mädel hätte das Ende |noch um eine Nuance tragischer gemacht. »Ich alter Mann habe nur noch Dich.« Es gibt nichts mehr zum Weinen, als hilfloses, verlassenes Alter. Zudem bin ich überzeugt, daß der Herr, der von Censur-Schwierigkeiten sprach, gerade die Reden Weirings  über Tugend und Behütung von Glück gemeint hat. Das ist zwar eine Hauptsache, ein Grundgedanke des Stückes. Das liegt aber den Trotteln wenig auf. Niemals wird man im kaiserlichen Hoftheater so etwas sagen lassen. Sonst ist die Scene ergreifend. Die Abschiedsscene hätte ich auch |noch um einen Grad kräftiger gewünscht, mit etwas mehr Betonung darauf, daß es der Abschied ist. Auch sollte er einmal vom Sterben sprechen und Angst zeigen. Sonst issie entzückend. Der Schluß mit der letzten Umarmung wird ungeheuer wirken. Einfach, aber sschön! Der dritte Akt ist der Höhepunkt; überhaupt ist das Stück vorzüglich gebaut, es wächsso allmälig ins große Dramatische hinein. Bewundert habe ich nebenbei die Kunst, mit der Du all’ die technischen Schwierigkeiten für den dritten Akt bewältigt hast, von denen Du in Ischl sprachst. Man kann sich keinen zwangloseren und natürlicheren |Vorgang denken. Besonders daß die Sache »übermorgen« spielt, ist zugleich technisch fein und dramatisch wirksam. Nun möchte ich auf eine kleine Gefahr aufmerksam machen: daß man nämlich den Theodor, wenn er nicht sehr geschickt gespielt wird, im Publikum zuerst komisch nehmen kann. Er ist auch gar zu sehr »mufle«. Insbesondere möchte ich, daß er das von dem Fallen im Duell nicht gar zu trocken heraussagt. Ich weiß wohl, was Du damit willst: mit |dem Mädel macht man eben keine Umstände. Aber so ein roher Kerl ist der Theodor doch nicht. Er sollte wenigstens verlegen sein, zu umschreiben versuchen: Unfall . . . .  schwer verwundet . . . .  und dann erst das Duell herausbringen. Die Tragik, die dann mit elementarer Gewalt losprasselt, – die Reden des Mädels – das ist ein Meisterstück. Mich hats bereits beim Lesen in der Kehle gewürgt. Auf dem Theater kann dem kein Mensch wiederstehen. Herrlich und tief ergreifend! Der Schluß gefällt mir nicht. Ich möchte nicht, daß sie sich umbringt. Das ist |gar nicht nöthig. Laß’ dem dummen Publikum wenigstens den kleinen Trost, daß sie leben bleibt. Es kann viel erschütternder enden. Sinkt dem Vater weinend an die Brust und der hebt schluchzend seinen zitternden Arm und schreit zu Theodor, dem Repräsentanten der »Welt draußen«: »Ihr habt mir mein Mädel umgebracht.« Oder so was. Aber kein Weglaufen. Man verhindert sie auch, ans Grab zu gehen, damit basta! Die Fenster-Hinausschreierei ist verfehlt. Die Hauptperson muß auf der Bühne bleiben. Und dann so unwahrscheinlich. |Er holt sie ja doch ein bis zum Kirchhof, braucht sich nur einen Fiaker zu nehmen, um ihr zuvorzukommen. Oder die Mizzi schreit aus dem Fenster den Passanten zu: »Haltets auf!« Das mußt Du ändern. Es ist ein Fehler, das Ende hinter die Coulissen zu verlegen.
Im Ganzen: ein edles und reifes Werk. Ich beglückwünsche Dich dazu von ganzem Herzen. Ich kenne zur Zeit Niemanden, der so etwas schreiben könnte, auch hier in Frankreich nicht. Es ist die Krönung Deines bisherigen Lebens und Schaffens, |und wird es erst einmal aufgeführt, so wird die Welt mit Erstaunen sehen, daß Du ein Dichter bist. . . 
Gräulich ist, nochmals, der Titel. Wenn Du einen hättest wählen wollen, der alle schlimmen Vorurtheile gegen das Stück erwecken sollte, so hättest Du keinen bessern finden können. Du mußt es umtaufen. Kannst und willst Du es nicht »Eine Liebschaft« nennen – das wäre das weitaus Beste – so |möchte ich Dir vorschlagen: »Arme Liebe«. Leicht kannst Du der Christine im dritten Akt noch zehn Worte in den Mund legen, die diesen Titel erklären; oder noch besser der Vater soll es zum Schluß sagen: »Wein’ Dich aus, Kind. Wenn arme Leute lieben, so dürfen sie nichts beanspruchen, als Thränen.« In der Größe seines Schmerzes wird der Alte aphoristisch ein einziges Mal. Das wäre umso wirksamer. Und denk’ Dir nur, was für eine |große allgemeine Perspektive sich am Schluß durch diese Worte noch öffnen würde. Das wäre doch besser, als die Fenster-Geschichten . . . . . 
Vielen, vielen Dank, mein lieber Freund, für den großen Genuß, den Du mir verschafft hast. Wie stehts nun mit der Aufführung? Schreib’ mir bald und ausführlich.
Zwei Bitten: Erstens. Ich habe zum Neujahr ein schönes Alt-Wiener Bild erhalten, von Artaria, mit dem ich mich unbändig gefreut habe. Aber ohne |Begleitbrief. Ein so zartsinniges, von Herzen zu Herzen gehendes Geschenk kann nur von Jemandem aus Deinem Kreise herkommen. Sag’ mir, wer der Spender ist.
Zweitens. Schreib’ mir Torresanis Adresse.
Viele treue Grüße!
Dein
 Paul Goldmann.
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