Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 12. 12. [1891]

|Paris, 12. December.

Mein lieber Arthur!

Bei der ungeheuren Überbürdung, die gleich noch ehe ich den eigentlichen Dienst übernommen, auf mich gefallen ist, muß ich kurz sein und kann keine Form für meine Ansicht suchen. Also folgendes: Der erste Act isschlankweg entzückend, gehört zu den besten ersten Acten, die ich kenne, sprüht von Geist und Leben, enthält prachtvolle dramatische Steigerungen und einen erbeben machenden Schluß, ist meisterhaft in der Bewältigung der Personenmehrheiten, vergnüglich in der Entwerfung der Physiognomien, edel und neu in den Gedanken. Ich stelle ihn ruhig einem Augier zur Seite. Äußerlich habe ich einzuwenden, daß während der Hauptdialoge auf der Bühne Clavier gespielt wird, was ich für einen Mangel an scenischer Geschicklichkeit halte. Zweiter Act: Beginn gut; erstes Gespräch zwischen Fedor und Leo gut, desgleichen erstes Gespräch zwischen Fedor und Fanny, |Auftreten Fr. Wittes guter dramatischer Truc. Fr. Witte selbst, verständlich für Dich, mich und die gewissen drei oder vier Andern; für das große Publicum zu sehr im Viertelprofil; der Durchschnittszuschauer weiß nicht, was er daraus machen soll. Aber bei den schönen geistreichen Sachen, die der Dialog enthält, geht die Scene vielleicht durch; nur kommen mir die Pointen zu gehäuft vor. Zola sprach mir in Brüssel von diesen mit Pointen vollgestopften Scenen, deren dramatische Wirkung er bezweifelt: »On doit avoir le temps de se moucher«, sagte er. Letzte Scene zwischen Fedor und Fanny. Da beginnt das embrouillement. Der Zuschauer kennt sich nicht mehr aus. Das Gesicht des Stückes wechselt plötzlich; statt der Gefallenen tritt auf einmal der junge Mann, die Analyse, die Seelenzerfleischung in den |Vordergrund. Es kommen Motive in’s Spiel, mit einem Ruck, unvermittelt, welche zu fein und zu atomisch zerfasert sind, als daß das Publicum mit seinen groben Werktagshänden ihnen nachtasten könnte. Das ist psychologisch, aber nicht mehr dramatisch. Und wenn die Scene doch einen Erfolg hat, so kann es nur dadurch geschehen, daß Meister Publicus sich das auf seine Weise zurechtlegt und, von all’ den psychologischen Tendenzen abstrahierend, nur den rohen Kern herausnimmt, der darin steckt: er will das Mädel nicht, aber das Mädel läßt nicht nach, und am End’ fallen sie sich doch in die Arme. Dritter Act. Der hätte sein sollen wie der erste: Personenmehrheiten, festes Zusammenhalten der Handlung und Steigerung auf einen Punkt hin, wo die Entladung mit mächtigem Ruck erfolgt; und dann Vorhang. Der Contract |vortreffliche Idee. Aber am Schluß, nachdem man den ganzen Act mit all’ seinen Fäden auf den Contract hat hinlaufen gesehen. Der Aufzug fällt aber in lauter Dialoge auseinander, und die Handlungen sind schichtenweis nebeneinander aufgestellt, statt in einem Körper zusammengeschmolzen zu sein. Dialog zwischen Wandel und Klara – sehr schön an sich, aber bringt aus der Stimmung, ist zu lang und verläuft, ohne in der Haupthandlung seine Fortsetzung zu finden. Und so weiter. Stell’ Dir das auf der Scene vor: einen Act, einen Hauptact eines Dramas, wo Alles Wichtige, was vorgeht, in lauter »Beiseite« stattfindet! Stell’ Dir vor, wie ein Act sich ausnimmt, wo die Hauptzahl der Personen immer im stummen Spiel im Hintergrunde oder auf der Seite steht, während vorn immer zwei paarweis |die Handlung machen. Und welche Aufgabe für den Hauptdarsteller, seine größten Scenen, seine Leidenschaftsausbrüche »gedämpft« vorzubringen! Welch’ ungünstiger Abgang! Statt nach einer starken Scene mit einem starken Wort hinauszugehen, schleicht er sich von hinnen, nachdem all’ seine dramatischen Feuer verloschen! Starke und gewaltsame Mittel waren nöthig. Kein beiseite, aus Furcht zu compromittiren, sondern eben dieses Compromittiren selbst, ein wuchtiger Faustschlag in dieses falsche Milieu, in dieses Philistertum à la Wandel hinein. Mit Aufschrei muß die schreckliche Wahrheit aus der Brust Fedors heraus, mit Aufschrei muß das Mädchen die Vernichtung beantworten, Leidenschaft gegen Leidenschaft, zwei Flammen, die über dem Haupte des Stückes zusammenschlagen. Schwung und Kunst im dritten Acte, aber |um Gotteswillen nur hier kein Grübeln, Quälen und Vertuschen.
Mit einem Wort: ein fertiges Stück ist das nicht. Aber ich meine, Du hast auch kein Recht, zu beanspruchen, daß Dir ein fertiges Stück jetzt schon gelingt. Als Weg zum Ziele ist es jedoch ein gewaltiger Schritt, als Talentbeweis ein glänzendes Ergebniß. Wer diesen ersten Act geschrieben, ist ein Dramatiker von Gottes Gnaden; und wer Robert und Ninetten erdacht, ist ein Dichter von goldenem Herzen. Als litterarische Arbeit ist »Das Märchen« eine Erscheinung, wie sie in dem letzten Jahrzehnt in der deutschen Litteratur so bemerkenswerth kaum noch da war und ist mit Sudermann und Hauptmann zu nennen. Dramatisch, unter dem |Gesichtspunkte der Aufführbarkeit ein Unvollendetes, das in Kürze Vollendetes verspricht. Ich rathe Dir entschieden ab, das »Märchen« aufführen zu lassen; es gibt nur einen Weg für Dich: weiterschreiben. Das thut weh; aber Du hast noch keine Berechtigung, Dich auszuruhen; denke, seit wie kurzer Zeit Du erst auf dem Wege bist. Und der Erfolg besteht für Leute wie Dich, deren Berufung außer Zweifel steht, nur in der Frage, ob sie nicht zu früh bequem werden. Ein neues Stück also; in einem halben Jahre arbeitest Du vielleicht dann den dritten Akt des »Märchens« um, und da hast Du auch damit einen dramatischen Erfolg in petto. Daß der Dialog von A bis Z voll ist der entzückendsten Sachen habe ich wohl schon gesagt. Kein einziger unter den Jungdeutschen in Berlin oder Wien ist Dir das |nachzuthun imstande. Wie hoch steht das »Märchen« mit allen seinen Fehlern z. B. über Herzl’s Sachen! . . . . 
Im Vertrauen auf Deine Freundschaft, mein lieber Arthur, habe ich Dir gesagt, was ich denke, ohne ein Jota zu ändern. Es war unklug von mir, denn eine Bitterkeit wird bei Dir doch zurückbleiben. Ich habe Dir vielleicht noch nie so weh gethan. Aber ich mußte wohl. Freundespflicht! Wenn ich Dir nicht die Wahrheit sagen sollte – wer denn sonst? Und so bin ich wieder einmal das Opfer meiner Pflicht geworden, umsomehr als ich ja, wie Du weißt, nicht zu den Leuten gehöre, welche über allen Nachtheilen der Pflichterfüllung sich mit dem Bewußtsein begnügen, daß es eben doch die Pflicht war.
Grüß’ Dich Gott!
Dein
 Paul Goldmann
Bitte, schick’ mir ein paar Empfehlungen für Paris! – Grüße an Richard, Loris und Kapper.
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