Paris, 12. December.Mein lieber Arthur!Bei der ungeheuren Überbürdung, die gleich noch ehe ich den eigentlichen Dienst
übernommen, auf mich gefallen ist, muß ich kurzsein und kann keine Form für meine
Ansichtsuchen. Also folgendes: Der erste Act istschlankweg entzückend, gehört zu den besten ersten
Acten, die ich kenne,sprüht von Geist und Leben, enthält prachtvolle dramatische
Steigerungen und einen E erbeben machenden Schluß,
ist meisterhaft in der Bewältigung der Personenmehrheiten, vergnüglich in der
Entwerfung der Physiognomien, edel und neu in den Gedanken. Ichstelle ihn ruhig
einem Augier zur Seite. Äußerlich habe ich einzuwenden, daß während der Hauptdialoge auf der
Bühne Clavier gespielt wird, was ich für einen Mangel anscenischer Geschicklichkeit
halte. Zweiter Act: Beginn
gut; erstes Gespräch zwischen Fedor und Leo gut,
desgleichen erstes Gespräch zwischen Fedor und Fanny, Auftreten Fr.
Wittes guter dramatischer Trucfranzösisch: Kniff, Trick. Fr. Witteselbst, verständlich für Dich,
mich und die gewissen drei oder vier Andern; für das große Publicum zusehr im
Viertelprofil; der Durchschnittszuschauer weiß nicht, was er daraus machensoll. Aber bei denschönen geistreichen Sachen, die der Dialog enthält,
geht die Scene vielleicht durch; nur kommen mir die Pointen zu gehäuft vor. Zolasprach mir in Brüssel von diesen mit
Pointen vollgestopften Scenen, deren dramatische Wirkung er bezweifelt: »On doit avoir le temps de se moucherfranzösisch: man muss Zeit haben, um
sich die Nase zu putzen«,sagte er. Letzte Scene
zwischen Fedor und Fanny. Da beginnt das embrouillementfranzösisch: Verwirrung,
Verworrenheit. Der Zuschauer kenntsich nicht mehr aus. Das Gesicht des Stückes wechselt plötzlich;statt der GefallenenGemeint ist damit die Figur der Fanny, die bereits vor ihrer
Beziehung zu Fedor sexuell
aktiv war. tritt auf einmal der junge Mann, die Analyse, die SeelenzerfleischungFedor gelingt es nicht, das
sexuelle Vorleben von Fanny
zu akzeptieren, trotzdem er mit dem Verstand die Idealisierung der
Jungfräulichkeit als »Märchen« abtut. in den Vordergrund. Es kommen Motive in’s Spiel, mit einem
Ruck, unvermittelt, welche zu fein und zu atomisch zerfasertsind, als daß das
Publicum mitseinen groben Werktagshänden ihnen nachtasten könnte. Das ist
psychologisch, aber nicht mehr dramatisch. Und wenn die Scene doch einen Erfolg hat,so kann es nur dadurch geschehen, daß Meister Publicussich das aufseine Weise
zurechtlegt und, von all’ dem den psychologischen hochf Tendenzen abstrahierend, nur den rohen Kern herausnimmt, der darinsteckt: er
will das Mädel nicht, aber das Mädel läßt nicht nach, und am End’ fallensiesich
doch in die Arme. Dritter Act.
Der hätteseinsollen wie der erste: Personenmehrheiten, festes Zusammenhalten der
Handlung und Steigerung der H auf einen Punkt hin, wo
die Entladung mit mächtigem Ruck erfolgt; und dann Vorhang. Der ContractEin Arbeitsvertrag, der Fanny, wenn sie ihn unterzeichnet, an ein Theater in St. Petersburg engagiert und damit auch einen
Ausweg aus der Beziehung zu Fedor ermöglicht.vortreffliche Idee. Aber am Schluß, nachdem man den
ganzen Act mit all’seinen
Fäden auf den Contract hat hinlaufen gesehen. Der Aufzug fällt aber in lauter Dialoge auseinander, und die
Handlungensindschichtenweis nebeneinander aufgestellt,statt in einem Körper
zusammengeschmolzen zusein. Dialog zwischen Wandel und Klara –sehrschön ansich, aber bringt aus der Stimmung, ist zu lang und verläuft,
ohne in der Haupthandlungseine Fortsetzung zu finden. Undso weiter. Stell’ Dir das
auf der Scene vor: einen Act, einen Hauptact eines Dramas, wo Alles Wichtige, was
vorgeht, in lauter »Beiseite«stattfindet! Stell’ Dir vor, wie ein Actsich ausnimmt,
wo im die Haupthzahl der Personen immer imstummen Spiel im Hintergrunde oder auf der Seitesteht, während vorn immer zwei paarweis die
Handlung machen. Und welche Aufgabe für den Hauptdarsteller,seine größten Scenen,seine Leidenschaftsausbrüche »gedämpft« vorzubringen! Welch’ ungünstiger Abgang!
Statt nach einer starken Scene mit einemstarken Wort hinauszugehen,schleicht ersich von hinnen, nachdem all’seine dramatischen Feuer verloschen! Starke und
gewaltsame Mittel waren nöthig. Kein beiseite, aus Furcht zu compromittiren,sondern
eben dieses Compromittirenselbst, ein wuchtiger Faustschlag in dieses falsche Milieu, in dieses Philistertum à la Wandel hinein. Mit Aufschrei muß dieschreckliche Wahrheit aus der Brust desFedors heraus, mit Aufschrei
muß das Mädchen die Vernichtung beantworten, Leidenschaft gegen Leidenschaft, zwei
Flammen, die über dem Haupte des Stückes zusammenschlagen. Schwung und Kunst im dritten Acte, aber um Gotteswillen nur hier kein Grübeln, Quälen und Vertuschen.
Mit einem Wort: ein fertiges Stück ist das nicht. Aber ich meine, Du hast auch kein Recht, zu
beanspruchen, daß Dir ein fertiges Stück jetztschon gelingt. Als Weg zum Ziele ist
es jedoch ein gewaltiger Schritt, als Talentbeweis ein glänzendes Ergebniß. Wer
diesen ersten Act geschrieben,
ist ein Dramatiker von Gottes Gnaden; und wer Robert und Ninetten erdacht, ist ein Dichter von goldenem Herzen. Als litterarische Arbeit ist »Das Märchen« eine Erscheinung, wiesie in dem letzten Jahrzehnt in der deutschen Litteraturso
bemerkenswerth kaum noch da war und ist mit Sudermann und Hauptmann zu nennen. Dramatisch, unter dem Gesichtspunkte der Aufführbarkeit ein Unvollendetes, das in Kürze Vollendetes verspricht. Ich rathe
Dir entschieden ab, das »Märchen« aufführenDas Märchen wurde am am Deutschen Volkstheater in Wien uraufgeführt, mit einem von Schnitzler modifizierten Schluss. zu lassen; es gibt nur einen Weg
für Dich: weiterschreiben. Das thut weh; aber Du hast noch keine Berechtigung, Dich
auszuruhen; denke,seit wie kurzer Zeit Du erst auf dem Wege bist. Und der Erfolg
besteht für Leute wie Dich, deren Berufung außer Zweifelsteht, nur in der Frage, obsie nicht zu früh bequem werden. Ein neues Stück also; in einem halben Jahre arbeitest Du vielleicht
dann den dritten Akt des »Märchens« um, und da hast Du auch da ein damit einen dramatischen Erfolg in petto. Daß der
Dialog von A bis Z voll ist der
entzückendsten Sachen habe ich wohlschon gesagt. Kein einziger unter den Jungdeutschenhier als Synonym für deutschsprachige Autorinnen und Autoren am Beginn ihrer
Karriere in Berlin oder Wien ist Dir das nachzuthun imstande. Wie hochsteht das »Märchen« mit allenseinen Fehlern z. B. über Herzl’s Sachen!
Im Vertrauen auf Deine Freundschaft, mein lieber Arthur, habe ich Dir gesagt, was ich
denke, ohne ein JotaRedewendung: Ohne die kleinste
Abänderung. (»Jota
« bezeichnet den kleinsten Buchstaben im
griechischen Alphabet.) zu ändern. Es war unklug von mir, denn eine
Bitterkeit wird bei Dir doch zurückbleiben. Ich habe Dir vielleicht noch nieso weh
gethan. Aber ich mußte wohl. Freundespflicht! Wenn ich Dir nicht die Wahrheitsagensollte – wer dan dennsonst? Undso bin ich wieder einmal das Opfer meiner Pflicht geworden,
umsomehr als ich ja, wie Du weißt, nicht zu den Leuten gehöre, welche über allen
Nachtheilen der Pflichterfüllungsich mit dem Bewußtsein begnügen, daß es eben doch
die Pflicht war.
Grüß’ Dich Gott!
Dein
Paul GoldmannBitte,schick’ mir ein paar Empfehlungen für Paris! – Grüße an Richard, Loris und Kapper.