Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 9. 6. [1891]

|Brüssel, 9. Juni.

Mein lieber Arthur!

Das ist der Unterschied zwischen Freundschafts- und Liebescorrespondenz: die Liebe will Gefühle, und die Freundschaft wird durch Gefühle auf die Dauer gelangweilt und will Thatsachen. Diese Wochen, in denen ich Dir nicht geschrieben, sollten also eine kleine Thatsachen-Sparbüchssein; und jetzt, wo ich meine Ersparnisse in dieser Beziehung nachsehe, finde ich nichts und kann Dir wieder nichts bieten als ein Paar schäbige Stimmungen und Empfindungen. Der Grund für den Thatsachenmangel ist vor Allem der, daß ich die Hautpzeit des Tages allein auf meinem Zimmer und mit meiner Arbeit verbringe. Meine Empfehlungen habe ich wohl abgegeben, aber sie haben zu nichts geführt; ausgesuchte Höflichkeit überall; aber die Höflichkeit ist ein gar matter Wärmespender; sie erwärmt nicht mehr als ein flüchtiger Händedruck, und das Herz kann dabei erfrieren. Da und dort hat man mich zum Diner eingeladen, und war froh, als der eigenthümliche Geist, dem man Alles Zweimal sagen mußte, um von ihm verstanden zu werden, und der selbst ein jämmerliches Stottern vorführte, die |Thür hinter sich zumachte. Ein klein wenig näher – aber auch nichts weniger als intim – verkehr ich mit einem jungen Manne (22 Jahre), Erbe und Leiter einer großen Glasfabrik; demgemäß ein wenig stolz und hautain, aber wohlerzogen genug, um das dem ihm warm empfohlenen Fremden nicht zu zeigen. Im Allgemeinen ein sehr hübscher, ästhetisch angenehmer Mensch – eine Art Boris Fanjung, nur viel feiner und hochstehender. Ein wenig Kunstdilettant und reizend, wenn er seine naiven Pläne entwickelt »de joindre l’art à l’industrie«. Vor Allem aber – strenggläubiger Katholik, der allsonntäglich zur Messe geht und sich auf nichts in der Welt mehr freut, als auf sein Fortleben nach dem Tode. Dazu eine blonde, äußerlich unbedeutende, sehr fromme, sehr sanfte und sehr kurzsichtige Schwester mit einem ewigen Lorgnon und mit Redensarten wie »Jésus es mon ami intime«. Fürstlicher Haushalt, nicht ohne Stimmung das Ganze – aber doch ohne rechte Wärme. . .  Außerdem ist da in Brüssel der Chefredacteur der »Indépendance belge« (Geograph wie Du bist, wirst Du fragen, |wieso Brüssel zu Belgien kommt, aber ich kann Dir verrathen, daß es die Hauptstadt davon ist). Dieser also, M. Tardieu, ist ein durchaus charmanter Mensch, der einzige echte Franzose, den ich bisher kennen gelernt, Cavalier, unermüdlicher und geistsprühender Plauderer und profunder Kunstkenner, Specialist für niederländische Malerei und enragirterWagnerianer. Der Chefredacteur der »Indépendance« ist natürlich in Brüssel ein großer Mann – wenn er auch von dem Größenwahn der Wiener Zeitungssaujuden keine Spur besitzt – und hat Besseres zu thun, als mit dem Correspondenten der »Frankfurter Zeitung« zu verkehren; aber alle 8 Tage ergibt sich doch eine Plauder-Viertelstunde auf seiner Redactionsstube, die ich dann immer höchlich angeregt verlasse. Und dann ist Brüssel selbst – elegante und sympathische Stadt. Schöne Leute. Und vor Allem eine große historische Vergangenheit – die gewisse gothische Bettdecke, die man sich über die Ohren zieht, wenn man von der Gegenwart nichts wissen will. |Viel Kunst – herrliche alte und elende neue: Ein Museum mit Rubens und Jordaens, wie ich sie sschön noch nirgend gesehen und die mich gründlich vom »Modernen« kurirt haben, so daß ich allmälig anfange, mir die Gegenwart abzugewöhnen. Kurzum: Eindrücke genug; aber doch der ewig wiederkehrende Grundton, der in Alles hineinsummt: sremd, fremd und fremd! Ach, mein liebes Wien! . . . . . 
Und zu thun habe ich! Du selbst wirst zwar kaum meine Arbeiten verfolgen können, was ich im Übrigen ganz begreiflich finde. Soviel ich mich erinnere, hast Du nie eine besondere Vorliebe für belgische Politik besessen. Und was die Feuilletons anlangt, die ich schreibe, die sollst Du erst nicht lesen, weil sie eh’ nichts taugen. Aber immerhin, es gibt gewaltige Arbeit. Allein die Lectüre der 14 freitäglich erscheinenden großen Blätter nimmt mir vier bis fünf Stunden pro Tag. Aber die Arbeit ist gut – Du weißt ja, nicht? – und jetzt besonders, denn sie richtet sich als eine spanische Wand auf, die mir das |ewig unzufriedene, traurige und hoffnungslose Gesicht eines eigenen Selbst verbirgt . . .  Fürchterliche Schwierigkeiten macht mir die Sprache. Seit ich hier bin, habe ich nicht eine Sylbe zugelernt. Und wenn man in der Regel sagt, man solle in ein fremdes Land gehen, um die fremde Sprache zu lernen, ssage ich dementgegen aus eigener Erfahrung, daß der Aufenthalt im fremden Land nur dazu nütze ist, Einen von Woche zu Woche mehr zu überzeugen, daß man von der fremden Sprache keinen Dunst hat und nie einen bekommen wird. . . . 
Ja richtig, der Koffer! Damit ist es mir gut gegangen. Ich lasse ihn in Frankfurt und bitte meine Mutter, ihn Dir zu übersenden. Meine Mutter, die in’s Land geht, vergißt im Eifer der Reise. Und mein Onkel schreibt mir dieser Tage: er habe mir den Koffer, den ich in Frankfurt gelassen, nach Brüssel nachgeschickt. Ich muß also wohl oder übel warten |bis der Koffer hier ankommt, und dann werde ich den Vielgereisten sofort nach Wien spediren. Sei mir nicht böse, bitte, deswegen! Hast Du irgend einen Wunsch, bezüglich irgend eines Gegenstandes, den man bei dieser Gelegenheit in Brüssel erwerben und mitschicken könnte? Litteratur, Kunst, Musik, Crawatten, Eßwaren oder so etwas? Bitte, denke nach. Mir ist leid darum, den Koffer leer zu expediren. . . . 
Und nun bekomme ich wohl einen recht langen Brief? Befinden, Arbeiten, Verkehr, Stimmung, Sommerpläne, Tages- und Abendeintheilung etc. Ich bin heißhungrig nach jedem Bissen Neuigkeit von Dir, von Wien und den anderen Freunden. »Es« ist in Brünn? Und Madame Olga? Ich kann Dir sagen, die echten Mondainen, die man hier sieht, sehen doch noch ganz anders aus. . .  Bitte grüße vielmals Kapper, Beer-Hofmann und Loris. Und sei Du selbst gegrüßt, von Herzen und in Treue!
Dein
 Paul Goldmann.
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