Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 6. 4. 1891

und
Handelsblatt. Frankfurt a. M., 6. April 1891.
Redaction.
Telegramm-Adresse:

Mein lieber Arthur!

Die Geschichte von den Grenzen der menschlichen Empfindungsfähigkeit ist wohl richtig; aber es bleibt Einem doch nicht erspart, die ganze Größe des Schmerzes zu empfinden, nicht auf einmal zwar, aber ratenweis, in einzelnen Attaquen. Ich habe heut Nacht wieder so ein wildes Heimwehfieber durchgemacht; und wenn ich feig wäre, möchte ich den nächsten Zug benutzen und in der geliebten Stadt mich in irgend einen Winkel verkriechen und nimmer daraus hervorkommen. Weiß der Himmmel – es kommt mir vor, als hätte ich die größte Dummheit gemacht, da ich von Wien wegging. Hier ist es öde und trostlos: die kleine Stadt, die unsympathischen Menschen und Langweile an allen Ecken und Enden; man kommt sich vor wie im Gefängniß, und der Ruck, mit dem |die schwere Thür hinter Einem in’s Schloß gefallen, zittert in allen Nerven nach. Meinen Onkel finde ich stumpf, gedrückt, resignirt wieder, halb erstickt von der Kleinstadtatmosphäre, mit einer tollen Sehnsucht nach der Welt draußen und, ich glaube auch, nach Wien im Herzen. Meine Mutter krank, gealtert, sorgenvoll, tief unglücklich. Was ich von den Verhältnissen in der deutschen Journalistik bisher gehört habe, lautet höchst unerquicklich und läßt die Wiener Zustände eher günstiger erscheinen. Die hiesigen Collegen empfingen mich freundlich aber kühl, wie es schon in Preußen Brauch ist. Zum Chefredacteur vorzudringen ist mir noch nicht gelungen. Vorläufig heißt es, daß ich bis 1. Juni hierbleiben soll; Näheres ist noch nicht verfügt. Was daraus werden soll, weiß ich nicht. Mir scheint, ich hätte besser gethan, als |Stiefelputzer bei irgendwem in Wien zu bleiben. Hier draußen ist das Sibirien und die Verbannung.
Dir und allen Freunden danke ich noch von ganzem Herzen für alles Liebe, das Ihr mir bis zum Schluß gethan. Beim Abschied hätte ich Euch gern noch ein Paar innige Worte gesagt, sand aber nur – wie gewöhnlich – ein Paar dumme Witze. Auch jetzt finde ich den rechten Ausdruck nicht; ich mag auch nach keiner stylvollen Redewendung suchen. Mir brennt im Herzen die Trauer um Euch Alle, – die Überzeugung, daß ich es nie mehr wieder so gut haben werde wie bei Euch – und der eitle Schmerz, daß ich jetzt schon ganz ersetzt und halb vergessen bin.
Schreib’ mir bald, grüß’ mir Alle – besonders Richard, Loris und die Fanjungs – und wenn Du Dich |selbst erwischest, so grüß’ Dich, so oft Du kannst (Briefkastenwitz!).
Dein treuer
Paul Goldmann.
Zeige diesen Brief, wenn Du willst, dem kleinen Richardsonst aber Niemandem.
Empfehlungen an Deine Familie.
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