Hochverehrter Herr Doktor!
Ich vermute, daß Sie nunmehr von Ihrer Reise in Gegenden, zu denen auch mich seit
Jahren eine in meine ständigen Lektüre wurzelnde, noch unerfüllbare Sehnsucht
oder Neugier lockt, von den Erdbeben unbetroffen zurückgekehrt sind, und will
Ihnen für zwei Dinge danken.
Vorer
st für Ihren
Roman, den
ich in der freien Zeit, die mir meine jetzt grau
sam-anstrengende Amtstätigkeit
ließ, mit herzhafter Freude und bewunderndem Schauer gele
sen habe.
|Ich habe natürlich Ihre There
se
gekannt, wenn auch nicht unter die
sem Namen; ich kannte
sie unter mancherlei
Ge
stalten, von Kindheit auf, als
sie um mich bemüht war – damals hieß
sie vor
allem Fräulein Jo
sefine –, und
späterhin, als ich, ein junger Men
sch, um
sie
bemüht war, im
Volksgarten, im
Prater, in
Schönbrunn
und auch im
Luxembourg, und
schließlich i
st
sie mir oft bei Gericht entgegengetreten. Aber in welch wunderbar-exakte
einfache Chronik haben Sie den furchtbar-tro
stlo
sen Lebenslauf dieser
sympathi
schen Alltagskreatur zu
sammengefaßt! Ich kenne nur noch ein Buch, das,
wie Ihr
Schopenhaueri
sches,die unendliche
Tro
st- und Fruchtlo
sigkeit des Men
schenda
seins (
tat twam asi) im Aufrollen der Qual eines endlo
sen Einzel
schick
sals aufzeigt:
Une Vie.
|Nur der Juri
st in mir, dem alles
Men
schliche nur Tatbestand i
st, fühlt
sich nicht gleich befriedigt: denn er
schüttelt darüber den Kopf, daß
Theresens bö
ser Bub ganz ohne Vormund auskommen muß – trotz der gut
funktionierenden
Wiener
Vormund
schaftsgerichte –, und auch die Altersgrenze von
sechzehn Jahren (auf
S. 277) will ihm nicht gefallen. Aber die
se kleinlichen Bedenken der Juri
sten
haben einem großen Kunstwerk gegenüber, wie Ihr
Roman es i
st, wirklich nichts zu be
sagen.
Und dann danke ich Ihnen herzlich für die Mühe, die Sie
sich mit der Lektüre
meiner korpulenten
Komödie
gemacht haben, und für Ihren liebenswürdigen kriti
sierenden Brief. Ich bin für
die Mängel meiner Arbeit keineswegs blind. Als einen ihrer Hauptfehler
sehe ich
es an, daß der gedankliche Aufbau in einer theaterwidrigen und ab
stru
sen Szene –
der Wanderung durch das Gehirn
|und
Unterbewußt
sein in’s Tran
szendente – gipfelt, während der Höhepunkt des äußeren
Ge
schehens, der Sieg der Revolu
[tio]n, ganz gegen den Schluß ver
schoben i
st,
sodaß Inkongruenz und
Un
symmetrie be
stehen. Auch die unwillkürliche Annäherung an den von mir zwar
geehrten, aber tief perhorre
szierten
Ibsen
i
st mir
sehr unangenehm und für die Er
schaffung die
ser unverzeihlichen Liga
möchte ich mich am lieb
sten, wenn’s nicht ohnedies zu
spät wäre,
selb
st
prügeln.
Hoffentlich flicht sich meine nächste Arbeit um einen weniger absurden Stoff. Es
ist schrecklich, daß man Stoffe nicht wählen kann.
Mit den besten Grüßen und EmpfehlungenIhr