|Kopenhagen (
nicht Havnegade)
19 Oct 11
Mein verehrter Freund
Ihr
Schauspiel und Ihr Brief
haben mir beide tief bewegt. Der Brief, weil er so herzlich war und weil ich, seit
lange von allerlei Unglück und Missgeschick verfolgt, für Herzlichkeit sehr
empfänglich bin, das
Schauspiel, weil es mir das Werk eines Meisters scheint, vollreif.
Diese Menschen, die Sie dort darstellen, stehen uns vor Augen als wirkliche
Individualitäten, voll und rund und originell, mit Eigenschaften und Eigenheiten,
die
ein Ensemble ausmachen. Die Nebenfiguren wie
Natter, oder die amüsant Karikierten, wie
Rhon und
Serknitz, sind nicht weniger unvergesslich als die
tiefsinnig studierten und räthselvollen wie
Friedrich,
Genia und die eine
ganze
Seele,
Erna.
|Ich würde nichts darüber schreiben
können, das etwas hinzufügte an die Wirkung, und nichts, das irgend etwas erklärte,
denn alles erklärt sich von selbst.
Sie lieben es, die Nebentriebe und Nebenpassionen zu verfolgen, die Sprünge und
Seitensprünge des Gefühlslebens, alles Getheilte, das von dem Hauptstamm sich ablöst,
auszubreiten. Die Welt, so gesehen, ist auf eine specielle Weise traurig. Meiner
Gefühlart nach wäre, um das Bild zu supplieren, auch das Erhebende, das ab und zu,
wenn auch sehr selten, uns begegnet, ich meine: das, was das Leben erträglich macht, auch mit in Rechenschaft zu ziehen.Ich bin, glaub ich, im Ganzen pessimistischer als Sie,
aber dennoch empfind ich einige Ruhepunkte, und man muss das, soll man sich nicht
tödten. Man muss z. B. Jemand vertrauen können; |in der hier vorgeführten, sehr
reichen und schillernden Welt, ist aber jedes Vertrauen unmöglich; alle arbeiten sich
von ihren Neigungen und Bänden los.
Haben Sie Dank, dass Sie sich um das mir unbekannte Frl.
Prozor bemühten, und dass Sie ihr so nützlich waren.
Sie irren sich wenn Sie glauben, ich möchte nicht gern nach
Wien kommen. Im Gegentheil
Wien hat immer für mich eine grosse Anziehungskraft gehabt; ich habe dort
sehr angenehme Stunden verlebt, besonders – es ist lange her – in
1885,
als ich den alten
Gompertz kennen lernte.
Später einmal, ich weiss nicht wann, es ist wohl 20 Jahre her, luden
Sie sich zu mir ein, und es war bei Ihnen eine Herrengesellschaft
spät Abends, wo viele, die später berühmt
××× geworden, zusammen waren:
Hoffmannsthal,
Wassermann, und andere.
Sonst habe ich in
Wien nur bei
Gompertz Menschen gesehen. Ich kenne
|ja Niemand dort.
Aber ich bin in der Regel wie in einem Schraubenstock;
ich kann nicht fort, wenn ich wollte, was zu weitläufig zu erklären ist. Leichter
zu
erklären ist, dass ich eigentlich nie Geld zu meinen Reisen habe. Aus
Deutschland bekomme ich nie einen Pfennig, habe
dort seit lange nicht einmal mehr einmal einen
Verleger und stehe mit keiner Zeitung in Verbindung. In
Dänemark verdiente ich durch ein Buch im Jahr 10375 Kronen, aus
England bekomme ich als Royalty für ein
Dutzend Bände jährlich 400 Kronen. –
Ihre Einnahmen
werden sich glücklicherweise anders gestalten.
Ich habe das Glück gehabt, meine
Mutter etwas länger zu behalten als es Ihnen gestattet wurde. Die Mutter ist
ja vielleicht das einzige unbedingt sichere, das wir zum Vertrauen haben, um so
unersetzlicher. Sie müssen jetzt 50 Jahre alt sein, ich bin in wenigen Monaten 70,
deshalb einigermassen isolirt, obwohl mein Temperament dasselbe geblieben.
Ich drücke Ihre Hand in alter Ergebenheit
Georg Brandes