Arthur Schnitzler an Georg Brandes, 4. 7. 1908

|Dr. Arthur Schnitzler Seis am Schlern (Südtirol)
verehrtester Herr Brandes, Sie haben wohl recht, dass in meinem Buch zwei Romane enthalten sind, und dass künstlerisch genommen der Zusammenhang kein absolut notwendiger sein mag. (Ich tröste mich gleich damit, dass andre Autoren manchmal auch glauben, sie hätten einen Roman geschrieben – und es ist gar keiner) Schon während meiner Arbeit hab ich immer gefühlt, dass es so kommen wird – aber ich konnte – oder wollte mir nicht helfen. Denn so sorgfältig das Buch componirt ist, es ist doch erst so recht ge|worden, während ich es schrieb. Denken Sie, was eigentlich der Kern war, um den sich allmälig das ganze gruppirte: Eine Scene, in der ein thörichter Bruder den Geliebten seiner Schwester als »Verführer« zur Rede stellt und von ihm glänzend geschlagen wird. Es hätte damals, als mir dieser kleine Einfall kam, ein Stück werden sollen. (Dieser ganze Einfall ist jetzt in einem beinah überflüssigen Sätzchen des 5. Capitels enthalten.) Dann schwebte mir eine Novelle vor: ein junges Mädchen, das sich aus theoretischen Gründen zu einem Geliebten entschliesst und sich in ihre Stellung nicht hineinfinden kann. Dann spukte mir eine Komödie im Kopf, mit dem Titel |die Entrüsteten, wofür schon die meisten Figuren, die sich jetzt im Roman vorfinden, feststanden, und noch einige andre. Nun dürfen Sie natürlich nicht glauben, dass ich diese Einfälle und Vorsätze sozusagen mit Absicht ineinander verschmolzen habe – sondern sie flossen ineinander, ganz ohne mein Zuthun – sodaß ich unmöglich daran hätte etwas ändern können. Ich habe nichts hineingestopft, weil ich eben Gelegenheit suchte, gewisse Ansichten oder Aphorismen anzubringen – sondern im Laufe der Erzählung, vielmehr schon während der Vorarbeiten, war jede Gestalt mit ihren Anschauungen dahingerückt, wo sie nun stehen geblieben ist. Mir war |das Verhältnis Georgs zu seiner Geliebten immer geradeso wichtig wie seine Beziehung zu den verschiedentlichen Juden des Romans – ich habe eben ein Lebensjahr des Freiherrn von Wergenthin geschildert, in dem er über allerlei Menschen und Probleme und über sich selbst ins Klare kommt. Manche von diesen Problemen sind mir selbst allerdings erst im Laufe der Arbeit zu ihrer eigentlichen Bedeutung erstanden – obwohl sie ja von Anbeginn in den Geschehnissen enthalten waren; insbesondere das Problem der Schuld und der Verantwortung. Ganz flüchtig, gewissermaßen |wie ein Spaß, kam mir sogar der Gedanke, das Buch »Die Mörder« zu nennen oder »Die Schuldig-Unschuldigen« – (ein Spaß wie gesagt) – aber fiel es Ihnen nicht auch auf, wie sowohl Georg als Heinrich Bermann als Leo Golowski jeder ein Menschenleben auf dem Gewissen haben? Georg metaphysisch oder in der Einbildung der Mörder seines ungeborenen Kindes – Heinrich läßt seine Geliebte aus Eitelkeit – oder »Trägheit des Herzens« (um den Titel des neuen Wassermann’schen Romans zu citiren) zu |Grunde gehn – Leo bringt seinen Gegner im Duell um. (Und keinem von ihnen ist innerlich freier zu Muth, als dem, der just im üblichen Wortsinn getödtet hat!)
– Was Sie an einer Stelle Ihres Briefes andeuten, ist mir auch in den Sinn gekommen: ob es nicht klüger, künstlerisch klüger gewesen wäre, Georg zum Liebhaber einer Jüdin zu machen. Ich konnte nicht. Die Gestalt der Anna stand von Anfang an eben so unwidersprechlich als katholisch da. Und es kam mir ja schliesslich nicht darauf an, irgendwas nachzuweisen: weder dass Christ und Jude sich nicht vertragen – oder dass sie sich doch vertragen können – sondern ich wollte, ohne Tendenz, |Menschen und Beziehungen darstellen – die ich gesehn habe (ob in der Welt draußen oder in der Phantasie bliebe sich gleich.) Es freut mich so sehr, dass Sie innern Reichtum in dem Buch finden. Dies Gefühl, ich will es gestehn, verliess mich selten während meiner Arbeit – und in diesem Gefühl verzieh ich mir mancherlei – vielleicht zu viel. Und immer wieder in diesem selben Gefühl – war ich so niedergedrückt und hoffnungslos, dass ich sagte: Wie schön war dieser Roman, – eh ich ihn geschrieben habe! – Jetzt aber, da er fertig ist, schätz ich ihn höher als alles was ich bisher gemacht – und ich danke Ihnen herzlich für all das gute, das Sie mir |darüber schreiben – und dank Ihnen noch mehr, dass Sie in meinen Sachen etwas verwandtes spüren. Was Ihre Freundschaft mir bedeutet, brauch ich Ihnen wohl nicht mehr zu sagen. Ich hoffe wir sehen uns wieder, und nicht in gar zu ferner Zeit. Kommen Sie denn gar nicht mehr nach Wien?
Meine Frau bittet mich, in guter Marienlyster Erinnerung, Sie bestens zu grüßen. Wir haben keinen guten Winter hinter uns; meine Frau hatte einen schweren Scharlach. Zwei Monate lang war das Kind deshalb außer Hause; seit dem Frühjahr sind wir viel herumgefahren; erst seit ein paar Tagen arbeit ich wieder was.
In treuer Verehrung Ihr
Arthur Schnitzler
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