LiebsterSie haben mich sehr geehrt, indem Sie mir Ihren
Schmerz gesagt haben. Sie wünschen, dass ich darüber nichts sage, ich antworte denn nur: ich habe selbst viel erfahren, Verluste
gelitten, bisweilen recht Hartes ausgestanden; Sie sind jung, ich ↓bin↓ alt, deich wage deshalb sonst keinen
Vergleich, ich glaube aber, wir haben eEins gemeinsam,
den inneren Born, den unversiegbaren Lebenstrieb, dem das Leben immer wieder werth
wird.
Ich kann dies sagen, denn meine Lage scheint meine Worte zu verspotten. Seit
5 Monaten liege ich zu Bett. Ich heile nicht. Eine Entzündung der Venen folgt bei
mir
immer der anderen, bisweilen bricht die Entzündung auf ein Mal an drei Stellen aus.
5 Monate im Gefängnis machen eine lange öde Zeit. Ich erhalte mir das Leben
|durch Lesen und Schreiben, erhalte
auch bisweilen Besuche. Man hat hier eine
Volksausgabe meiner Schriften angefangen (
Peter Nansen Ihr guter Bekannter ist der
Urheber) und sie scheint Erfolg zu haben. Man hat circa 5000 Subscribenten und druckt
6000 Exemplare. Es erscheinen alle 14 Tage 10 Bogen, und es wird etwas über 3 Jahre
dauern. Dennoch gehören einige meiner grösseren Schriften nicht diesem Verlag. So
viel Papier habe ich armer geschwärzt.
Madame
Marni, die ich übrigens nie gesehen
habe, schrieb mir, dass
Goldmann bei ihr
gewesen war und sich mit Freundschaft meiner erinnert hatte, was mich erfreute.
Richard Beer Hofmann gibt mir nie
|ein Lebenszeichen.
Wie gut dass Sie nicht von jenem Schriftsteller heimgesucht wurden! Lasen Sie den
kl.
Aufsatz pro patria den ich
in der
Zukunft vom
7 April hatte?
Neue fr. Presse und
Die Zeit verweigerten, ihn zu drucken. Die
Oesterreicher sind
preussischer als die
Preussen. Das arme
Skandinavien, man peinigt im Süden die
Schleswiger, im Norden die
Finnländer.
Ich erhalte Gottlob täglich von den meisten Gegenden
Europas Briefe und Bücher, sonst wäre ich in meinem Elend zu Grunde
gegangen. Ich lese stetig
L’Aurore und
Le Siècle, folge so von Tag zu Tag dem Verlauf der Begebenheiten in
Frankreich. Welches Stück Seelenlehre! Ich habe in meinem
|Leben wenig so Lehrreiches
gelesen.
Ihr
Buch habe ich noch nicht
erhalten; ich werde es mit derselben ernsten Aufmerksamkeit lesen, womit ich Ihnen
immer folge. Ich las kürzlich das
Vermächtnis wieder; es verdient, dass man dazu zurückkehrt. Ein kleiner dummer
schwedischer Journalist hatte Sie vor
einigen Tagen in einem
Stockholmerblatt, das mir zugeschickt
wird,
angegriffen; es brannte mir die Finger, dagegen zu schreiben, habe es
nicht gethan, weil ich ein wenig müde bin und soviele Correcturen täglich zu besorgen
habe, thue es vielleicht noch. Doch ich kann Ihnen vielleicht einmal auf bessere
Weise nützlich sein.
Ich drücke Ihnen die Hand.
Ihr Georg Brandes