Verehrtester Herr Brandes,
es war wirklich nicht nothwendig uns für etwas zu danken, was uns
selb
st
so viel
Freude gemacht hat wie die Möglichkeit während Ihres
Wiener Aufenthalts einige Stunden mit Ihnen zu verbringen; jedenfalls aber
freut mich Ihre liebe Nachricht aus
Sicilien, die
mir von Ihrem Wohlbefinden
so ange
|nehme Kunde
gibt. Über Ihre Aufnahme in
Rom hatte ich
schon
irgendwo gele
sen; der unge
störte Fortgang Ihrer Rei
se ließ mich auch vermuthen, da
ss
Sie von Hau
se gün
stige Mittheilungen erhielten, was mir nun durch Ihren Brief
erfreulich be
stätigt wird. Wir haben auch aus
Kopenhagen Ihre Bücher ge
schickt bekommen; herzlichen Dank dafür. Den
Band aus den
Hauptströmungen hab ich
schon gekannt, in der
früheren
|Ausgabe; dagegen habe ich Ihre
Rede über das Nationalgefühl
zum er
sten Mal gele
sen. Ich glaube d
ss
sie als ein wahres Mu
ster ihrer Gattung gelten
kann, da
sie
schwungvoll und
sachlich zugleich i
st.
Die Aufnahme des »
Freiwild«,
nach der Sie
sich erkundigen, war hier am er
sten Abend eine
sehr gute; die Kritik war
im ganzen wenig wohlwollend. Sie wi
ssen, da
ss ich
selb
st
|eine geringe Meinung von dem kün
stleri
schen Werth
die
ses
Stücks habe; aber davon
war wenig die Rede. Dagegen
flo i
st bei der
Be
sprechung der angeblichen Tendenz
so viel Bornirtheit und Verlogenheit aufgeflogen
– wie Staubwolken, wenn ein galoppirendes Ro
ss über die Land
straße jagt. Insbe
sondre
die anti
semiti
schen Blätter lei
steten unglaubliches in Denunziationen. Es i
st
schließlich
so weit geko
mmen, da
ss die Direktion
|des
Theaters nach
sieben Vor
stellungen »auf einen Wink von
oben«, (über den man mir
selb
st nur unter 4 Augen Auf
schluß geben wollte, was ich
nicht annahm) das Stück ab
setzte. –
Mein neues
Schauspiel ko
mmt im Herb
st in der
Burg dran (we
nn die Hofcensur nichts dawider
hat); jetzt habe ich ein paar einaktige
Sachen ge
schrieben und möchte bald wieder an was größeres
gehen. Bei dem neuen
Schauspiel i
st mir
stärker als je ein Grundmangel
|meines Schaffens zum Bewußt
sein gekommen. Ich
finde nemlich, da
ss mir die Nebenfiguren mei
stens nicht übel gelingen; hingegen i
st meine Hauptperson
meistens i
mmer irgend wer, dem was
sehr trauriges
pa
ssirt – und nicht viel mehr. Sie holt ihre Bedeutung aus ihrem Schick
sal, nicht aus
ihrem We
sen.
Die »
Lust« von
d’Annuncio, die Sie auf der Rei
se gele
sen haben, war mir auch nicht
sympathi
sch. Vor allem
schien mir einiger
Snobismus |drin zu
stecken; auch Bildungs
snobismus. Dagegen wäre möglicherwei
se nichts einzuwenden,
we
nn nicht gewi
sse kün
stleri
sche Schwächen daraus
hervorgingen. Ein Dichter hat gewi
ss das Recht zu
sagen: Sie
sah aus wie die
Madonna von
Rafael in
Dresden oder er erinnerte mich an ein Portrait von
Rembrandt; – aber er darf nicht verlangen, da
ss ich mir was vor
stellen
soll,
we
nn er
schildert: Sie hat Hände wie die
|Dame auf dem Bild eines unbeka
nnten Malers das in einer unbekannten Galerie in einer
ganz kleinen
italienischen Stadt hängt. Derartiges findet
sich in der »
Lust« nicht gerade
selten. – Was ich aber
son
st
von
d’Annuncio kenne, hat mich mit Bewunderung
erfüllt. Ich meine den »
Triumph des Todes« und
die »
Unschuldige.« –
Wie lange bleiben Sie noch in
Italien? Werden
wir bald wieder von
|Ihnen hören? Ich brauche die
»Wir« nicht näher zu bezeichnen.
Paul Goldmann
geht auf etwa ein halbes Jahr nach
China und
Japan, im Auftrag
seines
Blattes; er
schifft
sich am
5. April in
Genua ein. Ich will
in der Charwoche per Rad vom
Brenner aus durchs
Ampezzothal
nach
Venedig.
Von meiner
Mama und
Beer-Hofmann habe ich Ihnen die be
sten Grüße zu
sagen;
|mögen Sie, verehrte
ster Herr Brandes,
angenehmes denken und angenehmes erleben und uns, wenn Sie
sich auf der Rückrei
se
wieder in
Wien aufhalten (was dringend gewün
scht
wird) mancherlei davon erzählen.
Herzlichst ergeben
Ihr ArthurSchnitzler