Arthur Schnitzler an Georg Brandes, 3. 2. 1897

|Wien, 3. Feber 1897.

Verehrtester Herr Brandes,

Sie haben mir einen so herzlichen Brief geschrieben, das freut mich sehr. Es gehört wohl zu den angenehmsten Erfahrungen, einen Menschen, der einem längst viel bedeutet hat, sich auch menschlich nah zu fühlen. Lassen Sie mich das weiter glauben.
Die Milde, mit der Sie mein Stück beurtheilen kommt zum großen Theil wohl daher, dss Sie merken, ich selbsschätze es richtig. |Ich meine, man schätzt sich und, was man macht beinah immer richtig, wenn man nur überhaupt auf einem gewissen Niveau steht (Wo ist nur dieses Niveau? Da steckt die Schwierigkeit!) Man kennt sich selbst, und das Streben, nur halb unbewußt, geht dahin, sich selbst miszuverstehn, was ja freilich nicht angenehmer ist als sich zu kennen. Das Leben will im allgemeinen doch, dass wir zur Klarheit über uns gelangen.
Wie kommt es nur, dss Sie mich nach dem Anatol |für leichtsinnig hielten, jetzt für ernst? Und doch ist vielleicht beides richtig. Ich bin leichtsinnig in der Art wie ich in Erlebnissstürze und schwerlebig durch die Art, wie sie sich dann meiner bemächtigen. Ich glaube, jeder Mensch hat einen großen Lebensfehler, der ihn abhält, sein Wesen zur möglichen Vollendung zu bringen; meine Sünde mag sein, dss ich nicht verstehe, was zu Ende zu leben. Daher befinde ich mich meist in einem Zustand beträchtlicher innerer Schlamperei; Dinge, in denen ich eben stehe, sind in Wirklichkeit |vorbei; andre, die lang zu Ende gelebt sind, haben ihren Duft zurückgelassen – und der Duft von todten Sachen ist nie schön, die Blumen auf den Gräbern sind eine traurige Ausflucht. Ich glaube mit dieser unreinlichen ja fast unmoralischen Art inneren Lebens hängt es auch zusammen, dass ich beinah in jedem Einzelfall gedanklich mit allen Möglichkeiten einer Weiterentwicklung fertig bin – und dass ich den Ereignissen selbst meistens als ein verblüffter gegenübersteh.
|Jetzt eben hab ich manche Verdrießlichkeiten durchzumachen, die mich im Arbeiten ja sogar im ordentlichen Lesen stören. Aber bis zum Frühjahr muss manches in Ordnung kommen, und ich will ein bischen fortreisen. Da nehme ich mir Ihren »Shakespeare« mit worauf man sich freut, das soll man in Ruhe zu durchleben suchen; auch Bücher. Wenn mir was einfällt während der Lecture, werde ichs Ihnen sagen, da Sie mir das so freundlich erlauben. Dass |mir Ihr Buch gefallen wird, issicher; nicht einfach deshalb weil ich weiss, dss alles was Sie schreiben schön issondern weil alles was Sie schreiben, Sie sind. Und das ist viel, das ist alles beinah. Sie selbst haben das heuer in einer dieser wunderbaren Kopenhagner Stunden so einfach gesagt: »Was einer schreibt und ob er schreibt, ist eigentlich gleichgiltig, es kommt drauf an, wer schreibt –« Sie sagten es anders, besser, aber der Sinn |war es.
Ihre Briefe haben fast alle etwas Wehmuth; Sehnsucht nach Einsamkeit und Schmerz über Einsamkeit liegt darin, beides. Im übrigen gibts denn etwas, was traurig macht oder lustig macht? Ich meine, was die tiefere Trauer und die echte Heiterkeit gibt? Wir sind wie wir sind und das Leben hat fasso wenig Macht über uns wie wir über das Leben – Nun aber fange ich an das Gegentheil von dem zu behaupten, |was am Anfang dieses Briefes steht. Das läßt einen Verdacht gegen mich selbst in mir neu erwachen; dass ich nemlich nicht klug, sondern »geistreich« bin. Es sind wohl nur Anfälle.
Richard Beer-Hofmann bittet mich, Sie herzlichst zu grüßen.
Was ich zunächsschreiben möchte, ist eine Komödie, sehr gesund, sehr frech, und wo einer siegt. Denn bis jetzt sind meine Leute immer recht schäbig zu Grunde gegangen – und selten war es ein schöner Kampf.
– Für heute, mein verehrter Herr Brandes, sag ich Ihnen einen herzlichen Gruss, vielen innigen Dank und bin Ihr treu ergebener
Arthur Schnitzler
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