|Kopenhagen,
16. Jän. 1897
Liebster Herr Schnitzler.
Sie wissen: Alles was Sie schreiben interessiert mich, deshalb war ich auf Ihr
Stück gespannt und natürlich es
hat meine Erwartungen nicht getäuscht. Es interessiert lebhaft, es
spannt und hält in Atem bis zum letzten Wort.
Es mag sein wie Sie sagen, dass es etwas trocken wirkt, d. h. etwas knapp,
thesenartig, wenn es auch nicht so gefühlt ist. Ich verstehe Sie recht wohl wenn Sie
sagen, dass die weibliche Hauptfigur einen »Sprung« bekam. Der Ausdruck war mir neu,
aber die Sache ist mir bekannt. Das ist sogar auch mir einmal geschehen und es macht
immerhin einen unangenehmen Eindruck, kann auch der Produktion schädlich sein.
Ibsen sagte mir einmal: Ich kenne zuletzt die
Personen, die ich darstellen werde
n, so genau, dass
ich bei meinem Mann sogar die zwei Knöpfe sehe hinten an seinem Rock, die er selbst
nicht sieht. . . so lange haben Sie sich mit diesen Personen
nicht beschäftigt, dass Sie diese zwei Knöpfe gesehen haben. Deshalb sind die
Gestalten vielleicht nicht rund, nicht stereoskopisch genug. Die Liebe zwischen Paul
und Anna ist zu knapp behandelt, nicht individuell genug, nur indiciert. Auch scheint
es mir gewissermassen ein Fehler, dass die vielen so schön und lebendig gezeichneten
Nebenpersonen – meisterhaft sind sie, und mit so viel Kenntnis und Erfahrung
hervorgebracht – dass diese also ganz und gar nicht in die Handlung eingreifen. Das
ist mangelhafte Technik, nicht wahr?
Alle diese Einwendungen mache ich um mein Renomée als Kritiker nicht ganz
preiszugeben, denn mein Vergnügen ist nur Sie zu loben. Wir werden alle dümmer, wenn
man uns lobt, aber wir werden es ohnehin, und es gibt keine angenehmere Weise, dümmer
zu werden. Deshalb liebe ich selbst so sehr gelobt zu werden. Als ich noch meine
beiden kleinen
Mädchen hatte –
|ich habe
eins durch den Tod
verloren – lernte ich sie auf die Frage: »Wo wird man jeden Tag dümmer?« zu antworten
den Markt und die Nummer, wo ich damals wohnte, und sie thaten das mit Bravour. Jetzt
werde ich jeden Tag dümmer in
Havnegade, obwohl
ich mehr geschimpft werde als gelobt. Sonderbar, ich hatte Sie mir nach »
Anatol« ganz anders vorgestellt, leichtsinnig,
frivol, leichtlebig. Sie sind es kaum je gewesen, glaub ich jetzt. Sie sind ja sehr,
sehr ernst, für einen
Wiener sogar unglaublich
ernst.
Ich habe eine demütige Bitte an Sie. Lesen Sie einmal mein fürchterlich dickes
Buch über
Shakespeare – in dieser grässlichen deutschen Uebersetzung, wo
alle Musik der Sprache fort ist und der Sinn nur annähernd wiedergegeben und sagen
Sie zum Vergelt mir
Ihre Meinung darüber. Ich habe
dort ein Stück Psychologie kühner Art versucht und die ganze deutsche Kritik hat sich
mir
überlegen gefühlt; ich verachte aber diese Kritik
mehr als sie mich verachtet, und das heisst etwas.
Ich war sehr glücklich, heute von Herrn
Beer
Hofmann Brief zu bekommen, werde ihm sehr schnell schreiben, liebe ihn sehr.
Sie und er und
Goldmann sind staunenswerth,
unerhört,
Freunde. Dass es noch so etwas gibt! Was
ich derartiges hatte ist längst todt, und ich glaube nicht mehr daran.
Ihr
Georg Brandes