Lieber verehrter Herr Doktor, ich war, wie wohl alle, erst
überrascht, von Ihnen ein characterologisches
Buch zu empfangen, doch gleichzeitig sehr neugierig gereizt, wie ein so
verantwortliches Problem bei Ihnen Lösung finde. Sie wissen ja, dass mein
essayistisches
Hauptwerk von
dem nur zwei
Bände
bisher erschienen sind, eine »
Typologie des Geistes«
sein will, also die ganzen Identitäten in Varianten aufzeigen; so war Ihre
Formulierung mir eine Art Bestätigung und insbesondere jener tragende Gedanke, dass
jede Erscheinung ihren Schatten wirft wie ein organisches Gebilde, dass jeder Sinn
tätig seinen Widersinn, seine Verzerrung in der irdischen Erscheinung erschafft, will
mir ausserordentlich fruchtbar erscheinen. Dazu formt sich die Abwandlung durchaus
klar: more geometrico im Sinne unseres
Spinoza
und auch das Widerspiel fehlt nicht, amor intellectualis, die rein geistige Liebe
zur
beinahe metaphysischen Problematik. Ich bin für Sie dieses kleinen
Büchleins sehr froh, denn die Menschen nehmen den Künstler am
liebsten dort, wo er leicht und locker wird, in ihre Wertung auf. Hier werden manche
über den sachlichen Ernst erstaunen, der in Ihnen die Urmacht ist – ich freilich
erstaune nicht, ich weiss ja auch von Ihren verstreuten und leider noch nicht
gesammelten Reflexionen über die Kunst, wie sehr Sie die innerliche Mechanik dessen
beschäftigt, was nach aussen hin als Selbstverständlich-Wirkendes erscheint. Es wäre
mir innige Freude, einmal ausführlich mit Ihnen über diese Probleme sprechen zu
dürfen: im tiefsten Grunde sind Sie damit dem Sinn der Zeit nahegekommen, die endlich
– endlich! – müde wird der collectiven Typenlehre von den »Rassen« und »Nationen«
wie
sie
Gobineau in die Welt setzte und die
individueller Einordnung in den
↓Individual-↓Typus begehrt. Das haben Sie mit
|dieser kleinen
Studie, die nur den Rand zu berühren scheint, in Wahrheit
aber auf das Wesentliche zielt, sehr gefördert.
Ich fahre jetzt ein wenig nach Süden, hoffentlich in neue Arbeit hinein. Das letzte
Jahr war äusserlich so gut zu mir, dass ich nun doppelt anpruchsvoll wider mich sein
muss, um den unerwarteten Erfolg nicht zu dementieren. Aber je schwerer sie wird,
desto lieber hat man die Arbeit: ich weiss, es geht Ihnen ebenso und nie war Ihr
geistiger Ertrag fülliger und bedeutsamer als in den letzten Jahren.
Muss ich noch besonders sagen, wie sehr und innig ich Ihnen anhänge? Ich hoffe,
Sie wissen’s und gedenken freundlich Ihres getreuen
Stefan Zweig