Stefan Zweig an Arthur Schnitzler, 4. 2. 1927

|SZ Salzburg 4. II 1927
Lieber verehrter Herr Doktor, ich war, wie wohl alle, erst überrascht, von Ihnen ein characterologisches Buch zu empfangen, doch gleichzeitig sehr neugierig gereizt, wie ein so verantwortliches Problem bei Ihnen Lösung finde. Sie wissen ja, dass mein essayistisches Hauptwerk von dem nur zwei Bände bisher erschienen sind, eine »Typologie des Geistes« sein will, also die ganzen Identitäten in Varianten aufzeigen; so war Ihre Formulierung mir eine Art Bestätigung und insbesondere jener tragende Gedanke, dass jede Erscheinung ihren Schatten wirft wie ein organisches Gebilde, dass jeder Sinn tätig seinen Widersinn, seine Verzerrung in der irdischen Erscheinung erschafft, will mir ausserordentlich fruchtbar erscheinen. Dazu formt sich die Abwandlung durchaus klar: more geometrico im Sinne unseres Spinoza und auch das Widerspiel fehlt nicht, amor intellectualis, die rein geistige Liebe zur beinahe metaphysischen Problematik. Ich bin für Sie dieses kleinen Büchleins sehr froh, denn die Menschen nehmen den Künstler am liebsten dort, wo er leicht und locker wird, in ihre Wertung auf. Hier werden manche über den sachlichen Ernst erstaunen, der in Ihnen die Urmacht ist – ich freilich erstaune nicht, ich weiss ja auch von Ihren verstreuten und leider noch nicht gesammelten Reflexionen über die Kunst, wie sehr Sie die innerliche Mechanik dessen beschäftigt, was nach aussen hin als Selbstverständlich-Wirkendes erscheint. Es wäre mir innige Freude, einmal ausführlich mit Ihnen über diese Probleme sprechen zu dürfen: im tiefsten Grunde sind Sie damit dem Sinn der Zeit nahegekommen, die endlich – endlich! – müde wird der collectiven Typenlehre von den »Rassen« und »Nationen« wie sie Gobineau in die Welt setzte und die Einordnung in den Individual-Typus begehrt. Das haben Sie mit |dieser kleinen Studie, die nur den Rand zu berühren scheint, in Wahrheit aber auf das Wesentliche zielt, sehr gefördert.
Ich fahre jetzt ein wenig nach Süden, hoffentlich in neue Arbeit hinein. Das letzte Jahr war äusserlich so gut zu mir, dass ich nun doppelt anpruchsvoll wider mich sein muss, um den unerwarteten Erfolg nicht zu dementieren. Aber je schwerer sie wird, desto lieber hat man die Arbeit: ich weiss, es geht Ihnen ebenso und nie war Ihr geistiger Ertrag fülliger und bedeutsamer als in den letzten Jahren.
Muss ich noch besonders sagen, wie sehr und innig ich Ihnen anhänge? Ich hoffe, Sie wissen’s und gedenken freundlich Ihres getreuen
 Stefan Zweig
    Bildrechte © University Library, Cambridge