Stefan Zweig an Arthur Schnitzler, 25. 8. 1917

|Kalksburg, 25. August 1917
Verehrter lieber Herr Doktor, vielen Dank für Ihren guten Brief. Es liess mir doch keine Ruhe, ehe ich nicht Ihren Doktor Gräsler noch einmal gelesen hatte und ich zögere nicht, zu bekennen, dass das Unverstehen des Schlusses mein Fehler war. Ich fühle jetzt besser: dass diese scheinbare Episodenreihe (als die ich das Buch zuerst empfand) der concentrierte Lebenszustand dieses Menschen ist, das einzige Dasein im höheren Sinn der Spannung zwischen einer gleichgültigen Vergangenheit und Zukunft. Und ich empfinde jetzt erst, nachdem ich nicht mehr so hitzig zu Ende las, die ganze |künstlerische Plastik seiner Pychologie. Freilich, wie ist sie verborgen, wie wenige werden spüren, dass hier der Anker bis in die Untiefe, ins letzte Geheimnis der Lebensangst gelegt ist und werden meinen – wie ja ich selbst zuerst – das Schiff steure ein wenig willkürlich auf seiner Strömung! Es ist mit solcher Noblesse das Ungesagte gesagt und das Gesagte wieder um seine Härte gebracht, dass ich mich im Sinne der höhern Gerechtigkeit (von der wir doch einzig den furchtbaren Dank haben) unendlich freue, noch einmal dies Buch begonnen und beendet zu haben. Dass Sie, wie schon in der letzten Novelle, dem einsti|gen allzu wienerischen Milieu ausgewichen sind, das gesellschaftliche Problem als geringes gegenüber dem blutmässigen, tiefinnersten empfinden, spüre ich mit geradezu persönlicher Dankbarkeit. Ich weiss nicht, ob ich es trotz meiner grossen und nie gebeugten menschlichen Verehrung vermocht hätte, Ihrem Werke auf die Dauer treu zu bleiben, wenn es im bourgeoisen, oft typisch wienerischen Problem sich begrenzt hätte. Ich habe an Ihrem Werk immer die Bücher am meisten geliebt, wo der Inhalt ein allmenschlicher, allgültiger war (Frau Berta Garlan, Reigen, Ruf des Lebens, die letzten Novellen) und bin so glücklich, dass diese Verinnerlichung |in den letzten Jahren so fortschreitet, in denselben Jahren, in denen sie bei den meisten abzunehmen pflegt. Dass Ihnen heute künstlerisch nur mehr wichtig ist, was menschlich wichtig ist: das Blutproblem, die Gefühle des nackten, nicht bloss des socialen Menschen, scheint mir Verheissung und Erfüllung. Die Bourgeoisie ist mit allen ihren Problemen im letzten, glaube ich, unfruchtbar, es sei denn, dass man sie mit dem Hass und der Verachtung anfasst, die sie verdient. Darüber bin ich persönlich in diesem Kriege ganz klar geworden und gerade an den Besten wie Werfel, spüre ich diese Wahrheit bestätigt.
Mein Buch zögert und zögert noch: ich habe nur Bühnenexemplare. Aber in paar Tagen ist es doch in Ihren Händen!
Mit vielen Grüssen Ihr getreuer
 Stefan Zweig
    Bildrechte © University Library, Cambridge