|Kalksburg bei Wien,
14↓5↓. August 1917
Lieber verehrter Herr Doktor,
ein neues
Buch von Ihnen ist
so gute und erwünschte Gabe, dass, kaum es mir gestern zu Händen kam, ich es sofort
an dem heutigen dienstfreien Tage gelesen habe und meinen Dank dafür mit ein paar
(gewiss unzulänglichen) Worten in Ihre
Wiener Adresse geben will, unkund ob es Sie hier oder in
irgend einer Landschaft erreicht. Ich danke Ihnen aufrichtig: denn von Ihren
Prosabüchern habe ich immer einen künstlerischen Gewinn über die rein menschliche
Anteilnahme hinaus. Nur wer selbst vom Handwerk ist, kann diese ganz ins Unscheinbare
verborgene Contrapunktik der
Novelle würdigen, wie Sie (besonders in der Figur der
Schwester) scheinbar Wichtigstes
vorausnimmt,
|und zu erledigen scheint,
innerlich aber doch tätig sein lässt, um in überraschender Verwandlung den
Schwerpunkt dann immer wieder neu und neu zu verschieben, sodass wie ein Kreisel die
Erzählung nie fällt,
sondern in ständiger anreizender Schwebe bleibt. Diese Überraschungen, die aus allen
Characteren hier vorbrechen und im tiefern Sinne doch wieder nicht überraschen, weil
sie logisch sind, bilden für mich die Meisterhaftigkeit der
Novelle: immer geht sie den Weg, den man
nicht vermutet und immer in ein Ziel hinein. So wird auch der innerlich trockene und
mir eigentlich wenig wichtige Mensch, als den ich
Gräsler empfinde, ohne dass er eigentlich problematisch
wäre, ungemein interessant, weil er, gleichsam aus sich selbst erwachend, sich immer
an anderer Stelle findet, als er eigentlich wollte. Vielleicht war gerade dies Ihre
innere (und dann unendlich sublim geführte) Absicht, hier einer persönlichen
Primitivität, deren
|Pedanterie Sie doch
so nachdrücklich betonen, das Unerwartete und Ungemässe als Conflict und Contrast
zu
geben. Wirklich es ist ein Weg von Überraschung in Überraschung, dieses
Buch!
Freilich, wie es zu Ende ist, halte auch ich inne! Der Kreisel fällt kraftlos zu
Boden, wie ihm die Schnelle des Wirbels fehlt und den
Doktor Gräsler fasse und fühle ich nicht mehr ganz auf den
letzten Blättern. Sein Entschluss, ist es Resignation, Schwäche, Unsicherheit – sein
Leben ist es zuende, oder vielmehr, beginnt nicht hier das eigentlich Tragische
seiner Existenz? Ich bin aufrichtig genug gegen Sie – oder vielleicht gegen mich
(denn gegen den nicht genug Gestaltenden oder gegen den nicht geung Verstehenden
wendet sich dieser Einspruch) um zu sagen, dass ich den Abschluss nicht als
Abschluss, nicht als restlose Auflösung empfinde. Die Gestalten des Buches sind mit
seltener Meisterschaft, eine nach der andern, in ihrer irdischen und seelischen Form
abgeschlossen,
|er selbst der Tragende,
der Mittelpunkt, ist mir noch in der Schwebe des Schicksals. Vielleicht fehlt nur
hier eine Einsicht, aber da ich Ihnen in aller Verehrung doch als Aufrichtiger
gegenüber stehe, muss ich bekennen, dass mein angereizter Hunger des Miterlebens sich
nicht gesättigt empfindet und ich habe mir über den Rand des
Buches nachträumend in verschiedensten
Formen diese Existenz weitergedichtet. Aber vielleicht ist dies ja das Beste an einem
Buche, wenn es nicht nur das passive Geniessen befriedigt, sondern noch eine
geheimnisvolle Gährung des Gefühls zurücklässt, die selber noch einmal die Gestalten
umwühlt und verwandelt.
Nochmals, aus ganzem Herzen meinen Dank! In den nächsten Tagen sage ich ihn auch
durch das gestaltete Wort, durch mein neues
Buch. In diesen drei Jahren erniedrigenden, urlaublosen,
täglichen Dienstes habe ich mit Anspannung aller Kräfte endlich dieses
|Werk vollendet, das mein enziger Trost, meine innere
Sicherheit gegen den Widersinn der Zeit war. Bewusst habe ich die Gesetze des realen
Theaters missachtet und wie Sie es im
Medardus
taten, die Grenze von Raum und Zeit weit überschritten. Selbstverständlich kann es,
schon aus Censurgründen, kein Theater während der Kriegszeit spielen, aber ich habe
schon Annahmen und Zusicherungen für später und das Bewusstsein, nicht ganz vergebens
dreier Jahre gepresste freie Stunden unter Aufgabe aller Geselligkeit, aller
Freundschaft, aller Freude an dieses Werk gewandt zu haben. Jetzt freilich schlägt
mir die Müdigkeit schwer in den Nacken: ich frage mich warum es mir als Einzigen
versagt ist (nehme ich
Werfel aus) einmal
einen Monat frei und sich selbst gehörig leben zu dürfen und nicht täglich, nun fast
1000 Tage schon, in ein so stumpfsinniges Joch gezwängt zu sein. Aber ich klage nicht
mehr: das
Stück selbst ist ja
meine verwandelte und erhobe
|ne Klage und
Anklage wider die Zeit.
In wenigen Tagen ist es in Ihren
Händen und wenn ein oder das andere daraus ihrem Herzen
×××× nah wird,
ich empfinde ich viel als verklärt und entschuldigt.
Ich grüsse Sie und Ihre verehrte Frau
Gemahlin in alter Treue und Verehrung! Ihr
Stefan Zweig