Stefan Zweig an Arthur Schnitzler, 25. 9. 1916

|Wien 25. September 1916
Lieber verehrter Herr Doktor, ich weiss nicht, ob Sie schon wieder in Wien sind, möchte mich doch aber bei Ihnen anfragen, weil ich eigentlich recht ungeduldig bin, Sie wiederzusehen. So lange habe ich mir es versagen müssen, von Ihnen zu hören, aber meine Existenz in dieser Zeit ist ja eine so zusammengepresste, dass selbst die erwünschtesten Dinge aussen bleiben mussten. Seit bald zwei Jahren bin ich nun eine Art Diurnist, habe in zwei Jahren keine acht Tage für mich gehabt und muss selbst dieses kleine Stück Leben tagtäglich fast vor dem Absturz hüten, dazu kam in den letzten acht Monaten eine grosse Arbeit, die ich mit zusammengebissenen Zähnen vorwärts|treibe, die Angst im Nacken, sie nicht vollenden zu können, die Bangnis innen, ob nicht meine Kraft durch die innere Gegenwehr wider die Zeit nicht gebrochen sei. Sie mögen denken, was mir es bedeutet, da wieder einen Abend in der guten Atmosphäre schaffender, ans eigene Werk gestellter Menschen zu verbringen, wie viel mirs wäre, wieder von Ihrer gütigen Gegenwart Freude haben zu dürfen.
Fürchten Sie nicht, dass ich zu trübe Stimmung Ihnen bringe: im Gegenteil, ich bin jetzt durch Resignation gegen Alles irgendwie gepanzert. Etwas Anderes hätte ich Ihnen lieber mitgebracht, nämlich einen Akt oder zwei aus meiner grossen Arbeit und Ihnen vorgelesen. Ich glaube nur zu wissen, dass Sie nicht gerne sich lesen lassen, andrerseits ist mein Stück eben noch weit von der Vollendung und ich hätte es |gerne Ihnen näher gebracht. Es ist eigentlich meine erste wirkliche Arbeit, die erste, die ich innerlich ganz anerkenne, weil sie über das Mass meines Willens so hinausgewachsen ist, weil sie – wohl aussichtslos in jedem zweckdienlichen Sinne – nur die ganzen innern Probleme der Zeit und meines persönlichen Erlebens erlösend aufgelöst hat. Es war in den letzten acht Monaten die innerlichste Zwiesprache die ich führen konnte, besser als mit allen Menschen.
Ich habe in diesen Zeilen gar nicht Ihrer lieben Frau gedacht und doch gehen auch meine Worte an sie. Es ist so gut jetzt an wirkliche an menschliche Menschen denken zu dürfen und ich tue es gern und oft, um mich über die andern zu trösten. Wann immer Sie mir es erlauben wollen, komme ich zu Ihnen. Meine herzlichsten Grüsse voraus! Ihr getreuer
 Stefan Zweig
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