Berlin, 1. April.

Liebes Fräulein Olga,

Endlich einmal eine freie Stunde, nach arbeitsschweren Tagen. Heut will ich erst Ihren lieben Brief beantworten. Das Schwesterchen kommt nächstens an die Reihe.
Dieser Ihr Brief war alssehr schön. Ich sage ihnen, es thut wohl, ein wenig gestreichelt zu werden, – namentlich wenn man in dieser Beziehung gar nicht, aber auch schon gar nicht verwöhnt ist. Und doch, er kam ein wenig zu spät, dieser Brief. Ich merke gar zu deutlich, daß mein lieber Freund Arthur hinter den Coulissen die Regie führt. Ich habe schon aus Wien |den Eindruck mitgebracht, daß Sie auf mich nur aufmerksam geworden sind, weil ich Ihnen an der Seite dieses meines lieben Freundes erschienen bin. Sonst wären Sie wahrscheinlich an mir vorübergegangen, ohne mich zu sehen. Ihre Briefe haben mir die Wahrnehmung bestätigt. Natürlich werden Sie jetzt protestiren. Aber, glauben Sie mir, ich kenne so gut den Ton, den Diejenigen annehmen, die Einen verkennen. Ich höre ihn mit scharfem Ohr selbst aus der Freundschaft heraus. Ich bin ein Fachmann im Verkanntwerden.
Und da ich müde bin, immer wieder das selbe zu erleben, selbst bei den ganz Klugen (es gibt kluge Frauen, die doch |nur Denjenigen richtig beurtheilen, den sie lieben), so habe ich Ihnen vielleicht nicht so oft geschrieben, als ich es hätte thun sollen. Das ist aber keine Behandlung »en canaille«, wahrhaftig nicht. Mit der Freundschast hat das gar nichts zu thun. Ich will mit der Freundschaft keine Geschäfte machen, und es ist mir ein sehr feines und ein wenig weisches Vergnügen, mehr geben zu können, als ich bekomme.
Vielleicht hätte ich das, was ich Ihnen, liebes Fräulein Olga, da erzählt habe, gar nicht gespürt, wenn ich nur einen einzigen Menschen hätte (statt Mensch ist natürlich »Frau« zu lesen), der sich für mich interessirt und der mich lieb hat. Aber ich habe |Niemand. So sitze ich in der Einsamkeit und fange Grillen. Dieser Brief ist nichts als eine große gefangene Grille. Sie werden ihn als solchen behandeln und darüber lachen. Aber jetzt, wo mir die Ostersonne zum Fenster hereinscheint, wird es gar schlimm. Die dumme Frage regt sich wieder, warum es für die ganze Welt Frühling wird und warum ich allein davon ausgenommen sein soll? Es isschwer, seinen Gleichmuth zu bewahren, wenn einem so eine Frage im Kopfe rumort.
Liebes Fräulein ich möchte wissen, wie es Ihnen und dem lieben Schwesterchen geht. Und die Brautlieder von Cornelius möchte ich auch wohl einmal hören. Schreiben Sie mir bald wieder! Und fröhliche Ostern! Ihr
Dr. Paul Goldmann.
|Herzliche Grüße an Sie Beide und an Herrn Paul!
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