Felix Salten an Arthur Schnitzler, 20. 4. 1907

|Wien-Heiligenstadt, 20. April 1907

Lieber,

beigeschlossen sende ich Ihnen den Fall Heimann, zu dem sich eine weitere Bemerkung ja erübrigt. Mit Lautenburg werde ich wegen des HerrnRothenstern sprechen. Hoffentlich sehen wir uns bald.
Herzlichst Ihr
[handschriftlich:]
Salten

|Feuilleton.
Im Lessing-Theater ist das neue Stück von Gerhart Hauptmann durchgefallen. Aber nicht so einfach durchgefallen, wie sonst wohl andere Stücke, die eben keine Gnade und keinen Applaus finden. Sie haben es ausgelacht, verhöhnt, bebrüllt und bejohlt; haben das Gewebe der Handlung, während es noch vor ihnen abrollte, mit ihren Wutausbrüchen in Fetzen gerissen, haben mit ihrem Spott bei offener Bühne die Worte, die sich hervorwagten, abgefangen, sie verdreht und ihnen das Antlitz entstellt oder sie mit ihrem Schimpf kurzweg niedergeschlagen. Man fragt sich, wie das geschehen konnte. Die tausendköpfige Bestie hat den Dichter, als er (»Vor Sonnenaufgang«), ein neuer Mann, vor sie hintrat, giftig angefaucht. Vor vielen Jahren. Seither hielt er sie gebändigt und gezähmt, an manchem Abend. Und sie fraß aus seiner Hand. Nun konnte sie diesmal seinem Zwang entspringen, seine Fesseln so völlig abwerfen und ihm die Zähne fletschen wie einst? Ist ihm da unversehens ein Malheur passiert? Oder . . . Philister über dir, Gerhart Hauptmann! . . . ist die Kraft von ihm gewichen?
*
Jetzt liegt auch die Buchausgabe der »Jungfern vom Bischofsberg« vor. Und liest man dies neue Werk von Gerhart Hauptmann, ruhig, unbeirrt, überlegsam und mit allem guten Willen, dann zeigt es sich, daß dem Berliner Premierenvolk kein Meisterwerk zum Opfer fiel. Kultiviertere, an alten, erlauchten Traditionen erzogene Theaterbesucher hätten wahrscheinlich gefühlt, daß sie dem Dichter der »Weber«, des »Hannele« und noch zwölf anderer großer Kunstwerke Respekt schulden, und hätten nicht zum Hausschlüssel gegriffen. Aber alle hätten dieses Stück fallen lassen. Nach genauer, wohlwollender, pietätvoller Prüfung dieses Lustspiels muß man ein Urteil bestätigen, das gewiß allzu schreiend, allzu unhöflich im Ton, allzu hitzig und turbulent abgegeben wurde. Das aber gerecht ist. Leider Gottes. Leer und banal in seiner Handlung ist dieses Stück. Gequält und mühssam in seinen Gestalten. Armselig und atemlos in seinem Dialog. Albern, leider Gottes, albern, wo es spaßhaft sein will. Und ohnmächtig, wo es nach Humor ringt. Irgendein ganz matter, ganz leiser Schimmer von persönlich nahe erlebten Dingen, von persönlich nahe geschauten Menschen haftet manchmal an diesen Figuren. Wer dem Kreis, aus dem dies Stück geholt wurde, angehört, wer tiefer hineingeschaut hat, dem mag dieser Schimmer heller, vertrauter, aufklärender glänzen. Der mag vielleicht auch erraten, was hier die dichterische Absicht gewesen. Herausgekommen, sichtbar und deutlich geworden issie nicht. Leider Gottes.
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Und so erkennt man: die »Jungfern vom Bischofsberg«, das ist keineswegs nur ein mißlungenes Werk: das ist eine Krisis. (Hoffentlich keine Katastrophe.) Mißlingen kann jedem Künstler einmal ein Werk. Was liegt daran? Der Größte verfehlt manchmal den Kern eines Stoffes, erwischt ihn nicht, verrent sich und scheitert mit irgendeinem besonderen Wollen. Aber er darf nicht unter seinem Niveau scheitern. Gerhart Hauptmann ist hier auf einmal weit hinter sich selbst zurück, tief unter seinem Rang. Wir sahen ihn noch nie in solcher Niederung. Beispielmäßig: es gibt einige sehr schwächliche Stücke von Georg Hirschfeld, die sich ausnehmen wie ein schwacher Abklatsch von Gerhart Hauptmann. Dieses Lustspiel von Hauptmann aber nimmt sich aus wie ein schwacher Abklatsch von Georg Hirschfeld. Das eben isso verwirrend. Er erscheint hier als der Epigone seiner eigenen Epigonen.
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Man hat den Eindruck: jemand, der vom Sessel gefallen ist. Man hat den Eindruck: ein Absturz. Die treuesten kritischen Anhänger verlassen Hauptmann jetzt wie die vielberufenen Ratten das sinkende Schiff. Seine begeisterten Schild- und Schwertträger. Und seine alten Gegner lächeln triumphierend. Jeder von ihnen fühlt sich als ein Prophet: »Ich hab’ es ja immer gesagt.« (Was natürlich ekelhaft ist.) Jetzt stellen sich die Anklagen ein, die Vorwürfe und Ratschläge. Auch möchte man Erklärungen finden für diesen merkwürdigen Fall. Ein müder Mann, heißt es, der ausruhen sollte. Sein Geissoll brachliegen eine Weile, wie ein Acker, der allzuoft nacheinander hat Ernten tragen müssen. Natürlich, rufen andere, es war zu viel; jedes Jahr ein Stück. Das geht über seine Kraft. Dann wird der Direktor Brahm hineinverwickelt. Hat denn der nicht gesehen, wie schlecht das neue Werk ist? Wär’s nicht seine Pflicht gewesen, den Freund zu warnen, ihm, wenn’s nicht anders ging, die Bühne zu verschließen? Zuletzt gegen Hauptmann die Beschuldigung menschlicher und künstlerischer Leichtfertigkeit.
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Ich möchte, in Paranthese, ein Wort für Brahm einlegen. Denn ich glaube, daß ihm doch ein wenig Unrecht geschieht. Auch dann Unrecht, wenn er, wie sich’s von seinem Urteil erwarten läßt, die »Jungern vom Bischofsberg« von Anfang an für schlecht gehalten hat. Durfte er denn wirklich einem Stück von Gerhart Hauptmann sein Theater verweigern? Das schlagende Argument des Premierenskandals, mit dem jetzt alle so bequem und so unwidersprechlich hantieren, stand ihm doch nicht im Angesicht des Manuskripts zu Gebote. Vielleicht verwarf Hauptmann die Prophezeiung, hätte vielleicht Ratgeber gefunden, die ein günstigeres Horoskop stellten. War denn die Gefahr ausgeschlossen, daß Hauptmann, den freundlicheren Weissagern trauend und dem Schwarzseher, Brahm zürnend, zu Reinhardt ging? Wenn dann das Stück auch bei Reinhardt fiel, blieb noch immer das ärgerliche Räsonnement: Ja, wenn Brahm gewollt hätte . . . im Lessing-Theater, mit Bassermann, wäre nichts Schlimmes passiert. Ich glaube, Brahm war gar nicht in der Lage, hier etwas zu verhindern, hätte seinem Hause nur diesen für ihn wichtigsten Dichter verloren, was nicht zu riskieren war. Ganz abgesehen davon, daß Hauptmann, gestützt auf seine Erfolge, den Anspruch hat, mit jedem Stück einfach angenommen und gespielt zu werden. Und daß er schließlich nicht unter Brahms Kuratel steht.
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Er ist ganz allein verantwortlich; hat es auch neulich selbst gesagt, daß er »jederzeit bereit sei, vor sein Werk zu treten«. Leichtfertigkeit wird man ihm nicht vorwerfen dürfen. Wer einmal sein Gesicht gesehen hat, denkt nicht an dergleichen. Die Bilder, die von ihm verbreitet sind, geben von diesem Gesicht nur wenig. Geben nur einen falschen Begriff davon. Keines gibt den edlen Glanz, der auf diesem Antlitz ruht, keines diese leuchtende Unberührtheit seiner Mienen. Kein Bild gibt diesen Ausdruck von knabenhafter, unendlicher Güte, der um seine feinen Lippen schwebt. Kein Bild gibt auch die tiefe Heiterkeit seiner strahlenden blauen Augen. Ich habe ihn nur hin und wieder einmal, ganz flüchtig, gesehen, aber ich muß sagen: ich glaube |an Gerhart Hauptmann, um seiner schönen Augen willen.
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Lieber Gott, überhaupt das Persönliche. Es ist, namentlich in einem Fall wie diesem, das einzig Verläßliche. Irgendein Heuchler, der sich heimlich einmal den Kopf bebutterte, hat das Tartüffe-Wort erfunden: Die wahre Kunstkritik soll nie persönlich werden. Wie jede Lüge, die sich praktisch erweist und vielen Leuten Vorteil bringt, hat man auch diese zum Grundsatz ererhoben, hat sich beeilt, dieses herrliche Axiom in Sicherheit zu bringen und jeglicher Debatte zu entrücken. In Wirklichkeit aber sollte die wahre Kunstkritik gar nichts anderes sein, als persönlich, so gewiß, als ja auch jede wahre Kunst etwas rein Persönliches ist und nur in persönlichen Eigenschaften des Charakters, des Gemüts und im persönlichen Erleben ihre verborgensten Quellen hat. Ist einer tot, dann freilich  . . . , dann wirft die Kunstkritik schleunigst diesen famosen Grundsatz beiseite und wird persönlich. Aber dann ist es meistens schon zu spät. Erstens weil dann die Professoren kommen (was immer ein Malheur ist) und mit toten Dokumenten arbeiten. Und zweitens, weil dann die lebendigen Zeugen, die aus unmittelbarer Anschauung psychologisch Schöpfenden nicht mehr da sind. Wie viel wichtige Zeitgeschichte, wie viel rässellösendes, unschätzbares Material geht so verloren. Wie aufklärend, wenn man von einem Dichter sagen dürfte: er ist ein enger, habsüchtiger, neidischer Mensch, voll Beschränktheit und kleiner Laster. Oder von einem anderen: er hat eine rein musikalisch-formale Begabung, aber er isso grenzenlos dumm, deshalb kann er euch nur ein paar Verse, aber nie eine Gestalt oder ein Weltbild geben. Oder von einem Schauspieler: er ist verlogen, hinterlistig und voll Tücke, deshalb spielt er die Biedermänner mit der heißen verschwiegenen Sehnsucht, für einen ehrlichen Kerl zu gelten, so famos. Sein ganzes Spieltalent entspringt dem Wunsche, seinen Charakter zu verbergen, sich zu verstellen.
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Gerhart Hauptmann issicher durch persönliche Erlebnisse, durch Wandlungen und Geschehnisse persönlichster Art zu diesem Stück herabgeglitten. Und hat’s vielleicht deshalb gerade nicht bemerkt, daß er herabglitt. Wollte ich in dieser wichtigen Angelegenheit, in der wir diesen plötzlichen Kräfteverfall unseres stärksten Dramatikers betrachten, wollte ich diesmal den lügnerischen Grundsatz, an den ich ohnehin nicht glaube, beiseite lassen, ich könnte nichts Positives anführen, weil ich Hauptmann nicht nahe genug stehe, um Einblick in sein persönliches Walten, in seinen Charakter zu haben. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, daß es irgendwie mit ihm nicht in Ordnung ist. Nicht mit seinem Wesen, denn an dieses, an diese adelige Menschlichkeit Hauptmanns glaube ich. Wohl aber mit seinem Schicksal. Ein müder Mann? Das Gerede von seiner Müdigkeit halte ich für Unsinn. Wenn man fünfundvierzig Jahre alt ist, steht man in der Fülle der Kraft. Wo hätte sie Gerhart Hauptmann verbraucht? Er hat ohne Amt, ohne Berufsarbeit seit zwanzig Jahren nur seinem Schaffen gelebt. Auf dem Lande, auf Reisen. Von überall her Anregung und Erfrischung empfangend. Dafür sind sechzehn Dramen keine Arbeit, die einen Mann umwirft und ermüdet. Ein Jahr ist lang, und wenn man nichts anderes tut, kann einem produktiven Menschen in zwölf Monaten doch ein Stück gedeihen. Fertig? Ach, ich weiß, es gibt so viele schöne Seelen, die immer gern schreien: der ist fertig! Am liebsten hätten sie, wenn alle schöpferischen Geister »fertig« wären. Hauptmann hat so viele Gleise gelegt. »Die Weber«, »Hannele«, »Florian Geyer« usw., daß man nicht annehmen kann, er sei fertig. Sicher ist nur, daß er diesmal entgleist ist. Und das erscheint mir bedenklich genug.
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Es gibt noch andere Bedenken. Das leere, banale Vorwort, das er seinen gesammelten Werken in diesem Winter mitgab. Dann das beängstigend schlechte Deutsch, das man in seinen kürzlich veröffentlichten Romanfragmenten bemerkte. Vielleicht muß man trotz all seiner hohen Fähigkeit die Stellung, die er einnimmt, jetzt revidieren. Er war so lange ein Wahrzeichen, war mehr ein Begriff als eine Person. Hauptmann. Da mußte man für ihn, für die Sache sein, die seinen Namen trug. In hoc signo . . . oder gegen ihn. Parteifahne. Er war der große Sieg, der Anno 89 von den Modernen erfochten wurde. Die Schlacht bei Hauptmann. Ein historischer Name. Königgrätz, Solferino, Magenta sind ja auch kleine Nester. Und doch unsterblich. Hauptmann ist nicht klein. Aber die Schlacht bei Hauptmann ist am Ende größer gewesen, und wichtiger. Und jetzt tritt er uns auf einmal als er selbst entgegen. Als ein talentvoller Dichter, dem ein Lustspiel jämmerlich verdarb. Das fromme Wort der unentwegt Andächtigen: »O, Hauptmann, meine Zuversicht!  . . . « wird allerdings für immer zunichte. Nehmt ihn, wie er ist: ein Dramatiker von Genie. Ein Dichter von Intuition, dem aber der feste Halt eines tiefen künstlerischen Intellekts manchmal versagt ist. Trifft er’s (von selbst), dann ist’s herrlich. Trifft er’s nicht, dann ist es unrettbar. Und da er nirgendwo in seiner Seele und in seinem Geist ehern ist, da seine Selbsterkenntnis nicht kalte Augen, sein Wille zur Selbstentwicklung nicht stählerne Muskeln hat, brach er uns endlich unter dem Prunkgewand des Pontifex maximus zusammen. Seine Romanfragmente, sein Vorwort, sein Lustspiel sind Symptome, zeigen einen kindlichen Poeten, dem die artistische Bewußtheit nicht gegeben ward. Nehmt ihn, wie er ist. Und ihr habt nicht wenig.
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Daß er gerade bei einem Lustspiel die Partie verlor, gerade hier so ganz ohne Trümpfe blieb, ist am Ende die wichtigste Seite an der Sache. Das deutsche Drama isseit dem Kampf, der Anno 90 geführt wurde, befreut und erlöst. Das deutsche Lustspiel ist nicht vorwärts gekommen. Seltsam, daß gerade der Mann, auf den sich nach der Biberpelz-Komödie alle Hoffnung richtete, in seinem ersten wirklichen Bemühen ein Lustspiel liefert, bei dem man fast versucht wird, Ludwig Fulda all die Herbheit abzubitten, mit der man seine süßen Nichtigkeiten abwies. Wir sind im Lustspiel heute noch am selben Platz wie 89, haben Blumenthal, Kadelburg, Schönthan noch nicht überwunden. Die Schlacht am Bischofsberg ist verloren. Und das moderne deutsche Lustspiel noch nicht geschrieben.
Felix Salten.

|Brief des Herrn Moritz Heimann an mich.
Auf Ihren Brief hätte ich Ihnen gleich geantwortet, und wohl auch ohne einen solchen Ihnen geschrieben, wenn mi das Schreiben eines Briefes zur Zeit nicht so arg zusetzte. Man hat Sie nicht falsch berichtet, aber ich nehme an, dass man Ihnen auch den Grund dessen gesagt hat, was Sie meinen Groll nennen: es ist Ihr Aufsatz über Hauptmann in der »Zeit«, die Ergänzung in der Schaubühne bestätigt mir nur den Eindruck davon. Dass Sie ihn schrieben und wie Sie ihn schrieben! Diese schlecht verhelte Freude, diese falsche Gerechtigkeit, diese Demaskierung – mit einem Wort – des kaltherzig berechnet leidenschaftlichen, des politisierenden Journalismus, – alles dies hat mich bis in den Grund empört. Sie fangen damit an, die Ereignisse der Premiere zu beschreiben, und schön, anschaulich, mit aller wünschenswerten »Poesie« zu schreiben und sind gar nicht dabei gewesen, – Ihre Freunde werden Ihnen, gefragt, sagen können, wie sich das macht. Doch ich will und kann mich nicht auf die Einzelheiten einlassen und ich hoffe, dass auch Ihnen daran nichts liegt. Ich debattiere auch nicht mit Ihnen über Hauptmann und sein Werk, ich habe in dem Artikel Sie gelesen und das hat mich erregt; der Aufsatz von Kerr hat meinen Beifall gehabt (bis auf eine Stelle) auch das soll Ihnen sagen, was der Ihre mir gesagt und getan hat.
Lassen Sie mich glauben, dass Sie nur eine Unklugheit getan haben; aber es wäre nicht das erstemal, dass eine Unklugheit auch eine Unredlichkeit sein kann. Wenn irgend wer Ihnen geraten hat, den Aufsatz zu publizieren, oder auch nur nicht abgeraten hat, der hat Ihnen übel gedient, übler als ich in in diesem Augenblick.

|[maschinenschriftlich:] Wien-Heiligenstadt, 16. April 1907.

Lieber Herr Heimann

Sie bekommen meine Antwort erst heute, weil ich in diesen Tagen viel Wichtiges zu tun hatte. Und weil ich Ihnen nicht unter dem ersten Eindruck ihres Briefes schreiben wollte.
Mir wurde kein Grund angegeben, weshalb Sie meinetwegen Ihr Herz ausschütten. Sondern Herr Jacobsohn schrieb: »Heimann hat mir den Groll ausgeschüttet, den er gegen und über Sie auf dem Herzen hat.« Das Wort »Groll« wiederholte ich dann einfach.
Herr Jacobsohn fügte hinzu: »Schreiben Sie ihm selbst, wenn Sie Wert darauf legen, der Sache auf den Grund zu gehen.« Ich legte Wert darauf, und schrieb Ihnen. An meine Hauptmann-Kritiken dachte ich dabei gar nicht, denn die Wendung Jacobsohns »der Sache auf den Grund gehen« deutete mir nicht darauf hin. Ich setzte auch voraus, dass Sie vor einem offenen, mit aller Behutsamkelt, und – wie Sie wissen mussten – ohne Leichtsinn ausgesprochenen Urteil einige Achtung haben. Ein Irrtum, der nun aufgeklärt ist.
Ich schrieb Ihnen, weil ich schon vor Monaten zu mehreren Leuten (darunter auch zu Wassermann und Trebitsch) geäussert hatte, Ihr Benehnen gegen mich während meiner letzten Berliner Zeit und nachher sei mir merkwürdig versteckt erschienen. Also schon lange vor den »Jungfern vom Bischofsberg«. Das deutete ich Ihnen auch in meinem Briefe ziemlich lesbar an, und glaubte, Sie würden die Ihnen also gegebene Gelegenheit, aufrichtig zu sein, benutzen. Ein Irrtum, der jetzt gleichfalls aufgeklärt ist.
Ich antworte Ihnen ausführlich. Einfacher und kürzer |könnte ich auf Ihren Brief entgegnen: »Ich bin kein Schurke, Tybalt, ich seh Du kennst mich nicht – somit Lebwohl.« Aber es zeigt sich, dass solche Milde übel angebracht ist und dass Tybalt bald darauf dennoch niedergeschlagen werden muss. Deshalb antworte ich Ihnen lieber gielch ausführlich und erspare das Lebwohl für den Schluss.
Man braucht Ihren Brief nur neben meine Hauptmann-Kritiken zu legen und Ihre ganze Taktik enthüllt sich im Augenblick. Auch für diejenigen, die es nicht wissen sollten, dass ich von Anfang an jedes Werk Hauptmanns mit Bewunderung aufgenommen habe. Auch für diejenigen, die es weder aus meinen Schriften noch aus meiner persönlichen Bekanntschaft zu wissen vermögen, dass ich mich nienals gefreut habe, wenn irgendwo einem arbeitenden Manne ein Werk misslang. Und dass solche Freude meinem ganzen Wesen fremd ist.
Für jeden Unbefangenen sprechen es meine Hauptmann-Kritiken ohne alle Unterstimmen aus, dass ich die »Jungfern vom Bischofsberg« für schlecht halte. Nur diese. Dass ich aus Hauptmanns Prosa und aus eben diesem letzten Lustspiel den Eindruck empfing, er ermangle der Selbstkritik und der Fähigkeit des artistischen Arbeitens. Dass ich für das Misslingen dieses Lustspieles Ursachen suche, die mir ausserhalb von Hauptmanns Person zu liegen scheinen. Vor allem aber, dass ich über diesen Einzelfall hinaus an Hauptmanns dichterische Bedeutung glaube, und meine Leser auffordere, über diesen Einzelfall hinweg der Bedeutung des ganzen Mannes eingedenkt zu bleiben.
Sie beschuldigen mich dagegen einer »schlecht verhehlten Freude«. Dass heisst, Sie zögern keinen Augenblick es auszu|sprechen, dass Sie eine niedrige Gesinnung bei mir annehmen. Darin liegt nicht nur eine Fälschung meiner Kritik; (denn Sie werden allen Leuten, die meine »Freude« nicht ausfinden können, lächelnd zu verstehen geben, dass Sie eben ein feineres Gehör haben, als andere Menschen) darin liegt auch eine Treulosigkeit gegen unseren persönlichen Verkehr. Denn nur, wenn Sie sich alles dessen entschlagen, was Sie im Umgang mit mir an mir kennen gelernt haben, sind Sie imstande einen solchen Vorwurf gegen mich zu erheben. Darin liegt aber auch schon die Bereitschaft, diesen persönlichen Verkehr künftighin zur Bekräftigung Ihres Briefes umzufärben und zu verleumden.
Viel deutlicher geht das Verhalten, zu dem Sie sich entschlossen haben, aus dem andern Vorwurf hervor, den Sie mir machen, aus der von Ihnen sorgfältig zugefeilten Formel vom »kaltherzig, berechnet leidenschaftlichen, politisierenden Journalismus«. Was Sie hier begehen, ist weit schlimmer. Gerade Sie kennen mich genug oder sind doch – was dasselbe bieibt – verpflichtet, mich hinlänglich zu kennen, um zu wissen, dass ich nicht kaltherzig bin und dass, wenn Leidenschaftlichkeit bei mir irgendwo zutage tritt, nicht die Spur einer Berechnung mit dabei ist. Gerade Sie wissen, warum ich als produktiver Mensch den Journalismus ausübe und wie ich ihn ausübe. Dass ich jemals politisierend meine Urteile gedrechselt hätte, ist aus meinem Leben kein einziges Mal ersichtlich. Trotzdem werfen Sie mir diese Worte zu und vergreifen sich an mir, Sie – an mir, Sie, der den Journalismus mit solcher Mühe umwirbt – an mir, der ich von meinem Standpunkt aus mit Ihnen über Journalismus gar nicht zu reden brauchte; – Sie – an mir, der Sie sich damit begnügen, in gefahrlos verschwiegenen Zimmern ohne alle Verantwortung zu pre|digen und Klugreden zu halten, – an mir, der beständig seine Haut zum Markte trägt.
Sie sprechen von einer politisierenden Absicht, und sagen dann: »Wenn irgendwer Ihnen geraten hat, diesen Artikel zu publizieren u. s. w.« Sie haben also die Ansicht, dass man – ehe man sein Urteil publiziert, – sich dazu raten oder davon abraten lässt. Sie haben die Anschauung, dass man sich gemeinschaftlich darüber einigt, etwa gruppenweise oder durch Klüngelinteressen zusammengeführt, darüber berät, ob es »klug« oder »unklug« ist, diese oder jene Ansicht zu publizieren, kurz, dass man hier nach einer gewissen gemeinsam beschlossenen Taktik vorgeht.
Ich habe von jeher meine Kritiken veröffentlicht, ohne sie vorher irgend einem Menschen zu zeigen, auch ohne zu bedenken, ob mir das, was ich sage, Freunde oder Feinde, Nutzen oder Schaden bringt, habe von jeher dieses Verfahren – wenn man nur seine aufrichtige Ueberzeugung sagt – für das einzig mögliche gehalten, und stehe nun voll Erstaunen vor einer Denkweise, die mir übrigens sehr viel Licht über Ihren ganzen Brief verbreitet.
Sehen Sie, lieber Herr Heimann, aus diesem Schluss Ihres Briefes, aus Ihren Worten, die Sie im Vollton bedauernder Wohlmeinung aussprechen, raucht mir etwas entgegen, was wir zuwider ist. Hier haben Sie sich ganz unwillkürlich etwas entschlüpfen lassen, und Ihr Brief wird dadurch auf einmal zu einem Dokument gestempelt.
Sie durften sich’s – vielleicht – erlauben und von einer Unklugheit sprechen, wenn Sie es nämlich annehmen, dass es ein Ziel des Klugen sein muss, mit seiner Meinung einflussreichen Personen zu gefallen. Aber Sie durften nicht – auch nicht vermutungsweise – von einer Unredlichkeit sprechen. In meinem ganzen Leben, in mei|ner ganzen publizistischen Tätigkeit ist nichts vorhanden, was Ihnen ein Recht dazu gibt. Wenn Sie es trotzdem tun, dann lst es eben Ihre Gesinnung gegen mich, die nach einem schmähenden Ausdruck langt, die aber ihren Schimpf gerne den Anschein einer höheren Gerechtigkeit geben möchte. Leider kann ich Ihnen solchen Luxus nicht gestatten. Und ich habe für das Wort Unredlichkeit nur die eine Entgegnung: Frechheit.
Sie werfen mir vor, ich hätte die Premiere »beschrieben« ohne dabei gewesen zu sein. Diesem Vorwurf liesse sich selbst dann begegnen, wenn ich den Abend beschrieben hätte. Ich habe jedoch aus Berichten, die übereinstimmend in allen Zeltungen zu lesen waren, wie nach absolut glaubwürdigen Privatnachrichten in knapp zehn Zellen konstatiert, dass dieser Vorfall sich ereignet hat. Mehr nicht. Dieser laute und überall besprochene Vorfall bildete den äusserlichen Ausgangspunkt meines Artikels. Deshalb musste dieser Vorfall auch am Anfange des Artikels konstatierend erwähnt werden. Das ist eine Sache der Technik, von der ich allerdings glaube, dass Sie sie nicht verstehen. Ich bin aber gar nicht mehr im Zweifel darüber, dass Sie den Unterschied zwischen Beschreiben und Konstatieren diesmal absichtlich verwechseln. Und ich weiss, dass Sie mala fide handeln, wenn Sie mir zumuten, (Sie mir) ich hätte nach einem Berliner Theaterskandal geschnappt, um ihn zum Gegenstand einer »Schilderung« zu machen!
Damit allein aber geben Sie sich nicht zufrieden. Sie müssen noch sagen, ich hätte »schön« »anschaulich« beschrieben, müssen das Wort Poesie unter Anführungszeichen setzen und hoffen dabei, das werde mich treffen, weil es gegen Dinge in mir gerichtet ist, die mir am wertvollsten sind und von denen im Umkreis meiner Tagesarbeit sprechen zu lassen, mir empfindlich sein kann. |Hier brechen Sie mit Vorbedacht und mit Hohn in die Intimität meines Wesens ein, um mich desto sicherer zu verletzen. Dieser dreiste Griff an die geistigen Schamteile und Zeugungsorgane eines andern ist so widerwärtig, so durch nichts entschuldbar, dass ich ihn hier nur feststelle und weiter nichts drauf sage.
Ihr ganzer Brief ist lediglich eine Spekulation auf meine Gutmütigkeit. Hätten Sie mich nicht für so gutmütig gehalten, Sie hätten es nie versucht, mich mit dieser wohlfeilen Literaten-Psychologie zu dupieren.
Sie haben irgend ein dumpfes Gefühl gegen mich, das ich bei Ihren Jahren und in Ihrem Zustande schliesslich begreife, und das ich bezeichnen könnte, wenn ich wollte. Die absolute Wahrheit meiner Hauptmann-Kritiken reizt gewisse Empfindlichkeiten und Instinkte in Ihnen, die ich gleichfalls bezeichnen könnte.
Aber Sie schweigen. Trotzdem unser Umgang Ihnen jede Handhabe bietet, offen mit mir zu sein und (wenn Sie mich einmal sachlich im Unrecht glauben) sachlich und anständig zu mir zu kommen und mit wir zu reden . . trotzdem schweigen Sie gegen mich und »schütten anderen Ihr Herz aus«. Erst als ich davon höre und in einem erklärlichen Reinlichkeitsbedürfnis Sie gradeaus frage, erst dann bequemen Sie sich zu einer direkten Aeusserung. Dabei jedoch wollen Sie vor mir verheimlichen, was in Ihnen vorgeht, möchten aber trotzdem als ein aufrichtiger und freimütiger Mann vor mir erscheinen.
Und so schreiben Sie diesen Brief, der freimütig aussehen soll, geben sich als den Rechtschaffenen und Wackeren: Nicht etwa, dass Sie keine Kritik vertragen . . Gott bewahre! Bis auf eine Stelle (ich könnte diese Stelle nennen) hat Kerr |Ihren »Beifall« gehabt. Nicht, dass ich etwas gegen Hauptmann zu sagen wagte, beanstanden Sie . . behüte! Sie debattieren nicht mit mir über Hauptmann. Sie machen es viel geschickter: Sie sprechen über mich. Weil Sie gegen meine künstlerischen Argumente unfähig sind etwas vorzubringen, muss ich es sein, meine ganze Person, wogegen Sie sich wenden. Hier können Sie sich die Argumente sparen, (meinen Sie), und beweislos den Schreiber beschimpfen, da gegen das Geschriebene nicht gut anzukämpfen ist. Gelingt es nur, den menschlichen Wert des Kritikers zu vernichten, dann ist auch seine Kritik entwertet und kann aus der Hauptmann-Debatte ohne weiteres ausgeschaltet werden.
Sie verfahren dabei wirklich sehr schlau, gebrauchen »feine« Worte und Wendungen, nehmen einen »höheren« Standpunkt ein, damit der meinige tiefer erscheine. Sie geben sich eine edle Haltung, indem Sie eine kerzengerade Sache auf eine pfäffische Weise verdrehen. Sie sind salbungsvoll, gerecht und fromm, damit Sie Recht behalten und ich im Unrecht bleibe.
Wenn einer von uns beiden der Politisierende gewesen ist, dann sind Sie das, mein lieber Herr Heimann! Und es wäre mir nicht schwer, jetzt die Offensive zu ergreifen, und Ihnen zu beweisen, Ihnen Punkt für Punkt nachzurechnen, dass Sie lange schon, immer und überall politisierende Kleinliteratur und literarische Politik betreiben und betrieben haben. Denn jetzt ist mir doch über viele Dinge, besonders aber über dieses unverantwortliche, behutsam rückversicherte Predigertum ein Licht aufgegangen.
Sie haben die Sache mit mir sehr klug angefangen, aber es war doch recht töricht von Ihnen, gar so klug sein zu wollen. Sie haben mich für gutmütig gehalten und damit nicht schlecht ge|urteilt. Nur dass ich jetzt meine Gutmütigheit doch ein wenig zu zügeln verstehe, was Sie freilich nicht voraus wissen konnten. Ihnen war nur bekannt, dass ich in meinem Leben schon oft von Gehässigkeit, verletzten Eitelkeiten und geschädigten Cliquen-Interessen wütend angefallen worden bin, und niemals so viel Ernst für derlei Dinge aufgebracht habe, um sie energisch abzuwehren. Jetzt aber bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, dass es ein Unrecht war, mir von den Leuten, denen meine Kritik wider den Strich ging, Böswilligkeiten bieten zu lassen. Ich habe nachgerade genug von diesem Spiel und bin fest entschlossen, es nicht mehr zu dulden, wenn sich Literaten-Schmähsucht an mir vergreifen will, es nicht mehr zu dulden, wenn ein Einbruch in mein Wesen versucht wird. Sie sind jetzt der erste, den ich wieder einmal dabei abfasse.
Ich lege den Akt Heimann so wie er ist (meine Artikel, Ihren Brief, meine Antwort) zur Feststellung des Sachverhaltes für künftige Geschehnisse und zur persönlichen Aufklärung für diesen jetzigen Vorfall in die Hände einiger mir wertvoller Menschen.
Mit Ihnen selbst bin ich fertig, und schliesse meine Privatkorrespondenz mit Ihnen ein für allemal. Sollten Ihnen weitere Auseinandersetzungen mit mit erwünscht sein, dann verweise ich Sie vor die Oeffentlichkeit. Was Sie dort vorbringen, werde ich anhören, und Ihnen eben dort entgegnen. Die Bequemlichkeit der Hintertreppe und die Gefahrlosigkeit des Literaten-Schwatzes, kurz diesen ganzen Komfort, den sich Menschen in Ihrer Lage auf Kosten anderer so gerne gestatten, kann ich Ihnen zu meinem Bedauern nicht zubilligen.
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