Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 1. 10. 1890

Chef-Redacteur: Dr. F. Mamroth. – Redaction: IX., Berggasse 31.
Wien, den 1. October 1890.

Mein lieber Arthur!

Ich habe bei meiner Rückkehr eine wahnsinnige Arbeitslast vorgefunden und habe seit gestern Morgen nicht einmal Zeit, »A« zu sagen. Mit großer Kunst habe ich mir jetzt, Abends um 10 Uhr, ein Paar Minuten frei gemacht, um Dir wenigstens zu sagen, wie sehr es mich zu einer Antwort auf Deinen letzten Brief drängt und wie schmerzlich ich es empfinde, daß ich in diesen Tagen keine Zeit habe, all’ das Viele |Dir zu schreiben, das ich Dir zu schreiben hätte.
Nur das Allerwesentlichste will ich rasch bemerken. Ich täusche mich gewiß nicht, wenn ich meine, daß wir in Salzburg ein wenig verstimmter, kühler und fremder geschieden sind, als dies früher zwischen uns Brauch war. Das heißt, Du bist von mir so geschieden, nicht ich von Dir. Und im Bestreben, mir das zu motiviren, bin ich auf einen Grund gekommen, der mein Verhalten Dir gegenüber, das Du mir in Deinem Briefe zum Vorwurf machst, ein wenig zu rechtfertigen scheint. Durch diesen Deinen Brief verleitet, habe ich Dich nämlich rückhaltslos zum Vertrauten von einem Theile meines Leides gemacht und habe Dich sogar persönlich in diese unglückseligen Vorgänge hineingezogen. Seitdem kann ich das Gefühl |nicht los werden – und Du hast auch nichts gethan, um sein Aufkommen zu verhindern, – daß Du geringer von mir denkst und eine Nuance von Widerwillen gegen mich hast. Diese Leiden nämlich sind so niedriger und gemeiner Natur, daß sie den, der sie tragen muß, nicht nur unglücklich machen, sondern auch schänden. Ich spreche das deshalb so aus, weil ich in einem ähnlichen Fall gewiß Ähnliches empfinden würde. Das hat mit der Moral und Logik nichts zu thun. Wir – Du und ich – sind eben so hypersensibel, daß uns alles Mißduftige und Gemeine verstimmt, felbst wenn es ein unverschuldetes Unglück ist. Deine Leiden, lieber Freund, sind ritterlicher und cavaliermäßiger Natur, die meinen proletarisch und gemein. Und |die Furcht vor Deiner Hypersensibilität – ich betone nochmals, daß ich von mir auf Dich schließe, – ist es hauptsächlich immer gewesen, was mich an vollem Vertrauen in dieser Beziehung gehindert hat. Weniger der Zweifel an Deiner Theilnahme. Ich weiß, daß Du es gut und freundschaftlich mit mir meinst. Freilich glaube ich, daß in dieser Beziehung die Rollen zwischen uns Beiden nicht ganz gleichmäßig vertheilt sind. Ich glaube nicht, daß Du für mich jenes Gefühl inniger, eventuell bis zur Selbstentäußerung gehender Zuneigung empfindest, das ich – keine Phrase, mein Sohn! – für Dich empfinde. Erstens weil ich mich nicht für den Mann halte, der imstande ist, bei einem Andern ein derartiges Gefühl hervorzurufen. |Und zweitens, weil Du doch nicht so durch die Schule des Lebens gegangen bist wie ich und weil man eben nur in dieser Schule – mag man von Natur mit noch soviel Herzensgüte begabt sein – die Kunst lernt, von sich zu abstrahiren und in Andern aufzugehen. Ich beklage mich durchaus nicht über diese Ungleicheit. Ich bin gewohnt, mit den gegebenen Verhältnissen zu rechnen, verstehe Deine Stellung zu mir und habe Dich deshalb auch nicht um ein Gran weniger |gern. Hier und da nur thust Du mir weh. Und das ist eben oft gerade in jenen Momenten, wo ich Dir von meinen Schmerzen erzähle und wo ich nachher entweder immer das peinliche Gefühl habe, ich müsse Dir dankbar dafür sein, daß du mich angehört hast, oder gar das Gefühl, daß du mich überhaupt nicht gehört hast. Vielleicht daß ich Unrecht damit habe. Vielleicht, daß es richtig ist, wenn Du sagst, ich litte am »Kleinheitswahn« und daß dann an diesen Empfindungen ich schuld bin. Aber auf der andern Seite, wenn Du mich kennst und meine abscheuliche Empfindlichkeit auf diesem Gebiete kennst, ssolltest Du diese Empfindlichkeit nicht noch reizen, selbst nicht durch kleine Äußerlichkeiten. Deine Zerstreutheit |hier und da, sagst Du, ist nur eine Äußerlichkeit. Gut! Umso leichter müßte es Dir sallen, sie zu überwinden. Wenn Dir wirklich an meinem Vertrauen liegt, an meinem Vertrauen nämlich über res meaessollte Dir das kleine Opfer der Rücksicht auf meine Empfindlichkeit kein zu hoher Preis dafür sein.
Aber ich meine doch, es ginge auch, ohne daß ich Dich in meine Leiden hineinziehe. Der Gesunde hat in der Stinkluft einer Krankenstube nichts zu suchen, und Du bist der Gesunde von uns zweien, so weh Dir auch gegenwärtig um’s Herz sein mag. Verletzen darf Dich das aber nicht, das wäre kindisch und Deiner nicht würdig. Wenn ich Dich mit meinen Jeremiaden verschone und nur in |Momenten damit herauskomme, wo mir das Herz gar zu voll ist, – so thue ich das nicht aus Nichtachtung, sondern aus Rücksicht gegen Dich! . . . . .
Vieles hätte ich Dir jetzt über das Mädel zu schreiben. Der Eindruck, den sie am letzten Abend auf mich gemacht, war nämlich ganz und gar nicht sympathisch, und ich habe mehr als je die Überzeugung, daß sich da Deine Phantasie wieder ein Wesen construirt hat, das sich von dem wirklichen ganz wesentlich unterscheidet. Ich komme immer mehr zu der Ansicht, daß auch diese Geliebte Deiner nicht würdig ist. Ein liebes Mädel schon, ein schönes Mädel auch, aber weder so gescheit, noch so künstlerisch, noch auch so keusch |und grethchenhaft als Du glaubst. Ich kann Dir sagen, daß mich, wie ich bei näherer Betrachtung herausgefunden, das Verhalten des Mädels an dem letzten Abend in manchen Beziehungen an die – Jeannette erinnert hat. Und, merkwürdig, heut war die Hildegard de St. Quentin wieder bei mir, – ich habe Dir einen ganzen Band über dieses außergewöhnliche Wesen zu erzählen – und da stellte es sich heraus, daß |sie im vorigen Winter das Conservatorium besucht hat und auch die Kleine kennt. »Die hübsche kleine Chlum«, sagt sie, »mit dem ewigen Astrachankragen!« Und spricht sich etwas sehr von oben herab über das Mädel aus, was im Munde dieser Person zweifellos weder Neid, noch Überholung, noch Böswilligkeit ist.
Ich sage Dir das Alles so brutal heraus, weil ich es für eine Medicin halte, um Dir den Abschied zu erleichtern. Du würdest darum ein großes Unrecht an mir begehen, wenn Du mir darüber bös wärest.
Und nun, grüß’ Dich Gott, mein lieber Arthur! Alles gute Glück noch für den Rest deines dortigen Aufenthaltes und |auf srohes Wiedersehen!
Dein
Paul Goldmann.
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