Therese Rie-Andro an Arthur Schnitzler, 25. 12. 1927

|Wien, Weihnachten 1927.

Verehrter Herr Doktor,

Bitte, nehmen Sie einen Brief wie eine leise und bescheidene Stimme, die bis zu Ihnen will. Ich möchte Ihnen nichts andres sagen, als dass mich Ihre Sprüche und Bedenken so tief ergriffen haben, wie es mir nur noch einmal im Leben geschehen ist: als ich in meiner Jugend Nietzsches Morgenröthe zum erstenmale in die Hand bekam. Damals sprangen Tränen auf – wie gestern, als ich Ihr Buch las. Wie schön, dass einem dergleichen noch passieren kann! Da ist jedes Wort erlebt und erfühlt und erblutet . . . Ich drücke das sehr schlecht aus, aber Sie haben ja selbst von dem Riesen gesprochen, der an einer Tür der Wahrheit Wache hält, dem Wort. Ich kann mit ihm nicht ringen, bei einem Boxkampf zwischen ihm und mir käme nicht viel heraus. Ich möchte Ihnen nur ganz subjektiv danken für dieses – vielleicht schönste Ihrer Bücher. Und ich habe keine andre Berechtigung dazu, es zu tun, als dass ich von Jugend auf mit Ihren Gestalten gelebt habe und dass sie mich bis zum heutigen Tage begleiten.
Ihre
ThereseRie-Andro.
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