Georg Brandes an Arthur Schnitzler, 15. 5. 1922

|Kopenhagen, 15. Mai 1922

Mein lieber Freund

Im Jahre 1898 saß ich an diesem Tag an Ihrem Tisch in einem kleinen Kreis; auch Ihre Frau Mutter war damals anwesend. Ich sagte das wenig geistvolle Wort: »Sie sind also gerade 20 Jahre jünger als ich« und Sie antworteten lächelnd: »Und ich denke, wir werden auch in der Zukunft denselben Abstand von einander innehalten.«
Wir haben es also noch 20 Jahren gethan. Daß ich Ihnen Glück wünsche, versteht sich von selbst, wenn dieser mythologische Begriff sonst einen Sinn hat; ich wünsche Ihnen jedenfalls alles Gute, und ich danke Ihnen von Herzen für das, was Sie 30 Jahre hindurch mir gewesen sind, eine stets rinnende Quelle geistiger Genüsse, ja mehr als das: Sie haben mir das so seltene Gefühl gegeben, in der Ferne einen congenialen Freund zu haben.
Als ich von meiner vierteljährigen Abwesenheit hier ankam, wurde mir allgemein gesagt, Sie würden am 11. Mai hier sein und hier einen Vortrag halten. Ich hatte schon gründlich überlegt, ob meine Köchin gut genug sei und welches Restaurant wir für Sie und mich und einige Freunde die beste vorkäme, und nun sind Sie nicht da und ich weiß nicht den Grund. Es ist eine arge Enttäuschung. Weshalb sind Sie nicht gekommen? Unsere Zeitungen sagen es nicht.
Ich war in Griechenland. Mir wurde in Athen viel Freundlichkeit erwiesen. Was nicht Sokrates gelang, geschah mir; ich wurde im Prytaneion versorgt. Da die Regierung erfuhr, ich sei in Athen – in den ersten Tagen kannte ich keinen Menschen – ließ sie mich wissen, sie räume mir drei schöne Zimmer mit Badezimmer ein; ich darf weder für Essen noch für Wein das geringste zahlen. Sogar meine Wäsche werden bezahlt, meine Wagen etc. Und in großer öffentlicher Sitzung wo schöne Reden gehalten wurden, machte die Universität in Gegenwart der Minister, der Prinzen, der Professoren und Studenten mich zum Ehrendoctor. Die jungen Studentinnen (meistens aus Smyrna) warfen Rosenblätter über mich. Das war ein südländischer Feier. Glücklicherweise redete ich ganz gut – die anderen sprechen neugriechisch und altgriechisch, ich französisch.
Nun bin ich einsam hier, erwartete Sie, und Sie kommen nicht.
Ihr
Georg Brandes
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