Georg Brandes an Arthur Schnitzler, 13. 6. 1920

|Kopenhagen (genügende Adresse)
13 Juni 20

Verehrter und lieber Freund

Kennen Sie die unverständlichen inneren Hindernisse, die es uns unmöglich machen, einen Brief zu schreiben? Es gibt täglich so viel zu thun, dass wenn ein Augenblick der geistigen Frische sich einfindet, man es als Pflicht und Notwendigkeit fühlt, diesen Augenblick für die Arbeit zu verwenden. Und dann liegt es vielleicht daran, dass man tausend Dinge sich zu sagen hätte, und nicht weiss, was herauszugreifen für einen elenden Brief. Sie, wie auch unser gemeinsamer Freund Beer-Hofmann, sind mir in einem Menschenalter treu geblieben, und ich gebe Ihnen nicht ein Lebenszeichen, nicht einmal wenn Sie mir Ihre Werke schenken. Das Lächerliche dabei und das Unglaubliche ist, |dass ich immer und immer wieder an Sie dachte und mir sagte: An Schnitzler will ich schreiben, und kam nicht dazu.
Ich glaube, dass wir, als Peter starb, ein Paar Briefe wechselten, aber es ist lange her. Er starb Ende Juli 18. Gesehen haben wir uns nicht seit December 12, und was ist nicht in der Welt geschehen seit jener Zeit!
Ich weiss ja augenblicklich Nichts über Sie, nicht einmal, ob Sie in Wien weilen, sie haben wol eher Ihre Zuflucht zu irgend einer Villa genommen; aber der Brief wird Sie hoffentlich finden.
In irgend einer Zeitung sah ich mit Freuden, dass Die Schwestern einen grossen Bühnenerfolg gehabt haben. Ich finde das Stück sehr fein, sehr unterhaltend und echt, bin leise erstaunt, |dass Sie in so trauriger Zeit sich den Muth und die Spannkraft bewahrt haben, ein Lustspiel zu schreiben. Ich kann nicht glauben, dass was ich über die niederschlagenden Zustände in Oesterreich erfahren habe, übertrieben sei. Die Wandlung von dem Zustand vor dem Krieg zu dem jetzigen ist für uns alle, auch für die früheren Neutralen, furchtbar, doch am allermeisten für die bedauernswerthe Städte Wien und Budapest, Petersburg und Moskau. Die paar russischen Freunde und Freundinnen, die ich hatte, sind nach Constantinopel versprengt, und leben dort in Armuth; in Deutschland ist Alles unsicher und in Auflösung; in Frankreich und England sind mehrere meiner besten Freunde Jingo’s geworden und aller Vernunft verschlossen. Das grosse Publicum ist dort, wie überall, der ewige Dummkopf, der man genannt wird! |Ich hatte hier einen flüchtigen aber recht angenehmen Besuch von einem österreichischen Obersten Namens Kreutz, der ein gutes Buch Die grosse Phrase geschrieben hat, und danach einige weniger gute, oder wiederholende.
Mein Leben ist einsam; ich arbeite viel, habe wieder nachdem ich die zwei Bände über Cäsar herausgab, eine grosse Maschine in Arbeit; ich bin seit anderthalb Jahren in der italiänischen Renaissance vertieft. Ob es was wird, weiss ich nicht. Ich habe ja mehrere Altersgrenzen hinter mir.
Beer-Hofmanns merkwürdige Mysterie verstehe ich als seine Antwort auf die immer mehr anschwellende Bewegung des Judenhasses in Europa. Diese Bewegung hat auch den Norden erreicht, und mich zum Einsiedler gemacht. Früher war ich Däne und wurde so aufgefasst; plötzlich werde ich Jude genannt, und war es nie. Unmöglich, irgend etwas der Krapüle verständlich zu machen.
Ich hoffe, dass es Ihrer Frau Gemahlin und Ihren Kindern nicht übel geht. Ich drücke Ihnen von Herzen die Hand.
Ihr
Georg Brandes
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