Arthur Schnitzler an Georg Brandes, 16. 8. 1920

|XVIII Sternwartestr 71 Wien, 16. August 1920
lieber und verehrter Freund, mit Freude lese ich aus Ihrem Brief, dass Sie arbeiten und sich wohl befinden. Wann aber werden wir, die nicht daenisch verstehen, Ihre neuen Bücher kennen lernen? Goethe, Voltaire, Julius Caesar – keines von den dreien ist meines Wissens in deutscher Sprache erschienen oder bisher nur angekündigt.
Verzeihen Sie mir daß ich mit Bleistift schreibe, – so wird es leserlicher als mit der Feder (auch die sind während des Krieges hundertmal schlechter geworden); – und seit einer ziemlich erheblichen Oberarmverletzung die ich im Frühjahr durch einen Sturz über eine Baumwurzel erlitt und die mir durch ein paar Wochen das Schreiben ganz unmöglich machte, scheint mir, dss die Stahlfeder meiner Schrift noch weniger entgegenkommt als früher. Die Sache ist übrigens schon ganz gut. Auch sonst darf ich über mein Befinden (abgesehen von dem vertrackten Ohr) nicht klagen. Wir alle bringen uns, materiell, körperlich, seelisch, über diese Zeit des Grauens und der Schurkerei, ganz leidlich fort. Alle . . d. h. die |Meinigen, nahe Verwandte und Freunde. Die Zustände in Oesterreich, in Wien vor allem, sind schlimm genug – aber in die Ferne dringen doch alle Nachrichten so concentrirt, daß man notwendig ein übertriebnes Bild empfängt. Am übelesten dran ist natürlich der sog. Mittelstand, eine gewisse Sorte von Beamten, ehemaligen Offizieren, Aerzten, Advokaten, Künstlern, – Rentiers, die sich mit einer kleinen Rente ins Privatleben zurückgezogen haben und nun, da alles, nach unserer Valuta 50–100mal theurer geworden ist, langsam verhungern oder wenigstens proletarisiren. Dem sog. Proletariat, dem einstigen (freilich gibt es auch hier Ausnahmen) geht es besser als je, und man darf nicht behaupten, daß diese Schichte ethisch ihrem Aufstieg sich gewachsen zeigt. Aber warum sollten unter den Kanalräumern, Laternanzündern, Greißlern, Fabriksarbeitern, Locomotivführern u. s. w. die Parvenus sich besser benehmen als sie es in andern Ständen zu thun pflegten? |An den sog. neuen Reichen und Schiebern mangelt es in den neutralen Ländern, wie man weiß, so wenig als bei uns; – sie machen sich vielfach unangenehm bemerkbar, – und viele Leute, Moralisten und Vergnügungsreisende, beklagen sich und finden es furchtbar, daß in der selben Stadt das schrecklichste Elend neben dem lächerlichsten Luxus und fabelhafter Verschwendungssucht bestehen kann;– aber neulich sagte einer unsrer Staatsmänner (aus der nächsten Nähe Renners) zu mir, daß es vielleicht die Schieber und Verschwender seien die uns retten oder wenigstens über Wasser halten – was nationaloekonomisch vielleicht seine Richtigkeit hat. Das entwertete Geld, das in Fluß kommt, ist nie so gefährlich als das aus dem Verkehr gezogene; – und ein großer Theil unsres Unglückes liegt meiner Überzeugung nach in den Truhen der Bauern, in Gestalt von Banknoten begraben. Hier ließe sich auch von dem unglückseligen Verhältnis zwischen Stadt |und Land reden, das für den Zustand Oesterreichs so charakteristisch ist – aber das führte ins unendliche. Man glaubt vielfach, daß schon die Neuwahlen im Herbst bei uns eine Niederlage der Sozialdemokraten oder mindestens erhebliche Stimmenzunahme der Christlichsozialen bringen werden; – zu ganz russischen – oder zu ganz ungarischen Zuständen wird es bei uns nie kommen, denn bei uns bringt man es nie zum Fanatismus, sondern nur bis zur Lausbüberei (was aber in solchen Zeitläuften immerhin für kleinen rothen und weißen Terror ausreichen mag.) Die schlimmsten Rollen spielen, wie jederzeit, die Renegaten, – es hat seine geschichtlichen und psycholog. Gründe, daß sich diese unerfreuliche und gefährliche Spielart unter den Deutschen, den Juden und den Literaten am häufigsten findet.
|Aber ich will Ihnen doch um Gotteswillen keinen politischen Brief schreiben – schon darum weil es dann kein Brief sondern ein Buch würde, – mit Parenthesen, Commentaren, kleingedruckten Anmerkungen; – denn welcher Satz, welche Charakteristik dürfte ohne Einschränkung gelten?– Umso lebhafter hätt ich das Bedürfnis wieder einmal mit Ihnen zu reden;– aber wann kann ich nach Daenemark, oder Sie nach Oesterreich? –
Übrigens ist diese verdammte Valuta, die ich daher doch nicht so ganz verdammen kann, Schuld daran, daß ich mich in den letzten zwei Jahren trotz der fürchterlichen Geldentwerthung mit den Meinigen ohne eigentliche »Sorgen« weitergebracht habe: in Holland, Schweden, und auch bei Ihnen wurde einiges von mir gespielt; auch Amerika fängt an sich zu melden;– und Beträge in nordischen Kronen, oder holl. Gulden, die früher gar nicht in Betracht gekommen |wären, bedeuten für uns heruntergekommene Oesterreicher schon etwas. Daß keiner von uns auf dem gleichen Fuß wie vor dem Krieg oder auch noch 1916, 17 leben kann, ist selbstverständlich. ich habe neulich berechnet, dss ich, wenn ich z. B. meine Existenz nach der von 1914 einrichten wollte, – 1½–2 Millionen Kronen (als Jahresausgabe) bräuchte – und wie ich es anstellen sollte, zu Schiff von Florenz nach Amsterdam zu gelangen, (wie ich es im Mai 1914 gethan) – das wird mir auch wenn ich noch eine halbe Million zulegte keiner sagen können. – Wir wohnen in unserer alten kleinen Villa, die Sie kennen; – (für notwendige Reparaturen habe ich in diesem Jahr annähernd so viel bezahlt, als das Haus 1910 gekostet hat);– ein solches Heim in dieser Zeit zu haben, empfanden wir als besondre Schicksalsgunst; – freilich war man nicht jederzeit sicher, daß man es sich unge|schmälert erhalten würde; – aber bisher sind wir von Zwangseinquartierungen, Anforderungen, – ja sogar (wir wollen nichts verschreien) von Einbrüchen verschont geblieben;– und auch die gelegentlich angedrohten Plünderungen haben in Wien im allgemeinen nicht stattgefunden. Bisher. Da die Weltgeschichte ja leider ungehindert weitergeht, ist nicht abzusehen, was wir noch erleben werden. Im übrigen lebt man ja doch weiter – als könnte nichts passiren. Meine Frau gebraucht eine Cur in Gastein, meine kleine Tochter ist bei meinem Schwager und meiner Schwester in Altaussee, mein Sohn, achtzehn, (hat die Matura gemacht, muss aber Mathematik wiederholen) – ist nach München gereist, und auch ich verlasse in wenigen Tagen die Stadt, wahrschein|lich Salzkammergut, – um Anfang September mit all den Meinen in Altaussee zusammenzutreffen.
Gearbeitet habe ich nicht viel in den letzten Jahren, allerlei angefangen;– ich fühlte mich doch sehr bedrückt und verdüstert. Wäre man wenigstens freizügig wie einst. Unsere schönen Reisen – wie offen lag die Welt! Jetzt ist es schon ein kleines Problem, sich selbst und sein Gepäck zur Bahn zu schaffen – ein Billet zu lösen u. s. w. –
Nun hab ich Ihnen sozusagen acht Seiten geschrieben; – es ist nichts. – Und Sie Armer der sich trotzdem plagen musste es zu lesen!
– Denken Sie meiner weiter in Freundschaft; – ich halte an der Hoffnung fest, Sie wiederzusehen, und bin von Herzen
Ihr getreuer
Arthur Schnitzler
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