lieber und verehrter Freund, mit Freude lese ich aus Ihrem Brief,
dass Sie arbeiten und sich wohl befinden. Wann aber werden wir, die nicht daenisch
verstehen, Ihre neuen Bücher kennen lernen?
Goethe,
Voltaire,
Julius Caesar – keines von den dreien ist meines Wissens in deutscher Sprache erschienen oder
bisher nur angekündigt.
Verzeihen Sie mir daß ich mit Bleistift schreibe, – so wird es leserlicher als mit
der Feder (auch die sind während des Krieges hundertmal schlechter geworden); – und
seit einer ziemlich erheblichen Oberarmverletzung die ich im Frühjahr durch einen
Sturz über eine Baumwurzel erlitt und die mir durch ein paar Wochen das Schreiben
ganz unmöglich machte, scheint mir, d
ss die Stahlfeder meiner Schrift noch weniger
entgegenkommt als früher. Die Sache ist übrigens schon ganz gut. Auch sonst darf ich
über mein Befinden (abgesehen von dem vertrackten Ohr) nicht klagen. Wir alle bringen
uns, materiell, körperlich, seelisch, über diese Zeit des Grauens und der Schurkerei,
ganz leidlich fort. Alle . . d. h. die
|Meinigen, nahe Verwandte und Freunde. Die Zustände
in
Oesterreich, in
Wien vor allem, sind schli
mm genug –
aber in die Ferne dringen doch alle Nachrichten so concentrirt, daß man notwendig
ein
übertriebne
s Bild empfängt. Am übelesten
↓dran↓ ist natürlich der sog. Mittelstand, eine gewisse Sorte von Beamten,
ehemaligen Offizieren, Aerzten, Advokaten, Künstlern, – Rentiers, die sich mit einer
kleinen Rente ins Privatleben zurückgezogen haben und nun, da alles, nach unserer
Valuta 50–100mal theurer geworden ist, langsam verhungern oder wenigstens
proletarisiren. Dem sog. Proletariat, dem einstigen (freilich gibt es auch hier
Ausnahmen) geht es besser als je, und man darf nicht behaupten, daß diese Schichte
ethisch ihrem Aufstieg sich gewachsen zeigt. Aber
↓warum↓
sollten unter den Kanalräumern, Laternanzündern, Greißlern, Fabriksarbeitern,
Locomotivführern u. s. w. die Parvenus sich besser benehmen als sie es in andern
Ständen zu thun pflegten?
|An den sog. neuen
Reichen und Schiebern mangelt es in den neutralen Ländern, wie man weiß, so wenig
als
bei uns; – sie machen sich vielfach unangenehm bemerkbar, – und viele Leute,
Moralisten und Vergnügungsreisende, beklagen sich und finden es furchtbar, daß in
der
selben Stadt das schrecklichste Elend neben dem lächerlichsten Luxus und fabelhafter
Verschwendungssucht bestehen kann;– aber neulich sagte einer unsrer
Staatsmänner
(aus der nächsten Nähe
Renners) zu mir, daß es
vielleicht die Schieber und Verschwender seien die uns retten oder wenigstens über
Wasser halten – was nationaloekonomisch vielleicht seine Richtigkeit hat. Das
entwertete Geld, das in Fluß ko
mmt, ist nie so gefährlich
als das aus dem Verkehr gezogene; – und ein großer Theil unsres Unglückes liegt
meiner Überzeugung nach in den Truhen der Bauern, in Gestalt von Banknoten begraben.
Hier ließe sich auch von dem unglückseligen Verhältnis zwischen Stadt
|und Land reden, das für den Zustand
Oesterreichs so charakteristisch ist – aber das
führte ins unendliche. Man glaubt vielfach, daß schon die Neuwahlen im Herbst bei
uns
eine Niederlage der Sozialdemokraten oder mindestens erhebliche Stimmenzunahme der
Christlichsozialen bringen werden; – zu ganz
russischen – oder zu ganz
ungarischen
Zuständen wird es bei uns nie kommen, de
nn bei uns bringt
man
×× es nie zum Fanatismus, sondern nur
↓bis↓ zur
Lausbüberei (was aber in solchen Zeitläuften immerhin für kleinen rothen und weißen
Terror ausreichen mag.) Die schlimmsten Rollen spielen, wie jederzeit, die
Renegaten, – es hat seine geschichtlichen
↓und psycholog.↓
Gründe, daß sich diese
↓unerfreuliche und gefährliche↓
Spielart unter den Deutschen, den Juden und den Literaten am häufigsten findet.
|Aber ich will Ihnen doch um Gotteswillen keinen
politischen Brief schreiben – schon darum weil es da
nn
kein Brief sondern ein Buch würde, – mit Parenthesen, Co
mmentaren, kleingedruckten Anmerkungen; – de
nn welcher
Satz, welche Charakteristik dürfte ohne Einschränkung gelten?– Umso lebhafter hätt
ich das Bedürfnis wieder einmal mit Ihnen zu reden;– aber wa
nn ka
nn ich nach
Daenemark, oder Sie nach
Oesterreich? –
Übrigens ist
e diese verda
mmte Valuta, die ich daher doch nicht so ganz verdammen
kann,
↓Schuld daran↓, daß ich mich in den letzten zwei Jahren
trotz der fürchterlichen Geldentwerthung mit den Meinigen ohne eigentliche »Sorgen«
weitergebracht habe: in
Holland,
Schweden, und auch bei Ihnen wurde einiges von
mir gespielt; auch
Amerika fängt an sich zu
melden;– und
die Beträge in
nordischen Kronen, oder
holl. Gulden, die früher gar nicht in Betracht geko
mmen
|wären, bedeuten
für uns heruntergeko
mmene
Oesterreicher schon etwas. Daß keiner von uns auf dem gleichen
Fuß wie vor dem Krieg oder auch noch
1916,
17 leben ka
nn, ist selbstverständlich. ich habe neulich berechnet,
d
ss ich, we
nn ich z. B. meine Existenz nach
dem der von
1914 einrichten wollte, –
1½–2 Millionen Kronen
↓(als Jahresausgabe)↓ bräuchte – und wie
ich es anstellen sollte, zu Schiff von
Florenz
nach
Amsterdam zu gelangen, (wie ich es im
Mai 1914 gethan) – das wird mir
↓auch wenn ich noch eine halbe Million zulegte↓ keiner
sagen kö
nnen. – Wir wohnen
selb in unserer alten kleinen Villa, die Sie kennen; – (für notwendige
Reparaturen habe ich in diesem Jahr annähernd so viel bezahlt, als das Haus
1910 gekostet hat);– ein solches Heim in dieser Zeit
↓zu↓ haben, empfanden wir als besondre Schicksalsgunst; –
freilich
fühlte war man nicht jederzeit sicher, daß
man es sich unge
|schmälert erhalten würde; – aber
bisher
waren↓sind↓ wir von Zwangseinquartierungen, Anforderungen, – ja sogar (wir wollen nichts
verschreien) von Einbrüchen verschont geblieben;– und auch die gelegentlich
angedrohten Plünderungen haben in
Wien im
allgemeinen nicht stattgefunden. Bisher. Da die Weltgeschichte ja leider ungehindert
weitergeht, ist nicht abzusehen, was wir noch erleben werden. Im übrigen lebt man
ja
doch weiter – als könnte nichts passiren. Meine
Frau gebraucht eine Cur in
Gastein, meine kleine
Tochter ist bei meinem
Schwager und meiner
Schwester in
Altaussee, mein
Sohn, achtzehn, (hat die
Matura gemacht, muss aber Mathematik wiederholen) – ist nach
München gereist, und auch ich verlasse in wenigen Tagen die
Stadt, wahrschein
|lich
Salzkammergut, – um Anfang September
mit all den Meinen in
Altaussee zusa
mmenzutreffen.
Gearbeitet habe ich nicht viel in den letzten Jahren, allerlei angefangen;– ich
fühlte mich doch sehr bedrückt und verdüstert. Wäre man wenigstens freizügig wie
einst. Unsere schönen Reisen – wie offen lag die Welt! Jetzt ist es schon ein kleines
Problem, sich selbst und sein Gepäck zur Bahn zu schaffen – ein Billet zu lösen
u. s. w. –
Nun hab ich Ihnen sozusagen acht Seiten geschrieben; – es ist nichts. – Und Sie Armer
der sich trotzdem plagen musste es zu lesen!
– Denken Sie meiner weiter in Freundschaft; – ich halte an der Hoffnung fest, Sie
wiederzusehen, und bin von Herzen
Ihr getreuer
Arthur Schnitzler