|Dr. Albert Ehrenstein. 27. April 1911
Sehr geehrter Herr Doktor!
Vor einigen Tagen kam mir wieder Ihr letzter Brief in die Hand und ich finde nun,
dass ich die darin behandelte Angelegenheit nicht so auf sich beruhen lassen kann.
Auch fühlte ich mich verpflichtet, Herrn
Karl
Kraus, dem ich leider bis zum
21. April von dem Inhalt Ihres
Briefes, der sich auch auf ihn bezieht, keine Mitteilung gemacht hatte, das Schreiben
vorzulegen. Ich bin daraufhin zu dem Entschlusse gelangt, einige unerlässliche
Feststellungen vorzunehmen, sowohl für meine Person, wie für Herrn
Kraus, der, wie ich mich eben überzeugt habe,
vollkommen unverschuldet mit dieser Sache in Zusammenhang gebracht wurde und der sich
durch die Voraussetzung Ihres Briefes: »Es ist jedenfalls total ausgeschlossen, dass
sich
Grossmann und
Kraus diese Fabel einfach aus den Fingern gesogen hätten«
einigermassen überrascht fühlte.
Ich erkläre hiemit ausdrücklich: es tut mir leid, Ihnen gegenüber Aeusserungen
gemacht zu haben, die Herrn
Grossmann zu
gravieren schienen. Ich stehe nicht an, sie mit der Kundgebung meines lebhaften
Bedauerns vollständig zurückzuziehen. Es wird vielleicht gut sein, wenn ich Ihnen
meine Aeusserungen, die ich nicht mehr aufrecht erhalte, in Erinnerung bringe. Mit
Rücksicht auf hinhaltende Versprechungen, die Herr
Grossmann einzelnen
|Schauspielern gemacht
haben soll, sagte ich, Herr
Grossmann scheine
eine Art Hochstapler zu sein. Sie antworteten darauf: »Nennen Sie nicht das Wort
›Hoch‹ in Verbindung mit
Stephan Grossmann!«
Ferner sagte ich, fussend auf einem Schauspielergerede, Herr
Grossmann solle erotisches Entgegenkommen gegen Beweise seiner
direktorialen oder kritischen Gunst tauschweise eingehandelt haben. Sie antworteten:
»Auch ich habe von Schauspielern gehört, Stephan
Grossmann ist das grösste Schwein, das in
Wien existiert.« Ich bedaure sehr, diese drastischen Worte, die besser nicht
über unser Privatgespräch hinaus Wirkung erlangt hätten, weitergetragen zu haben,
in
Kreise, die Ihnen, wie Sie sagen, Ȋusserlich und innerlich ferne sind und bleiben
sollen«.
Nochmals, ich bedauere also: gestützt auf ein Schauspielergeschwätz, Ihnen
Mitteilungen über Herrn
Grossmann gemacht zu
haben, und noch mehr bedauere ich, gestützt auf Ihre Autorität, die mir diesen
Tratsch zu bestätigen schien, ihn an drei Leute weitergegeben zu haben. Ich habe
damit das Odium auf mich genommen, scheinbar eine private Mitteilung benützt,
jedenfalls aber Sie in die Unannehmlichkeit versetzt zu haben, Ihre Bemerkungen
eventuell gegen Herrn
Grossmann vertreten zu
müssen. Wiewohl ich keinen Moment zweifelte, dass Sie dies im Stande wären, und
ferner nicht zweifelte, dass Ihre Information gegebenenfalls eine Stütze für mich
wäre, so sehe ich doch ohne weiteres ein, dass ich Ihnen damit keinen Dienst erwiesen
habe. Ich bedauere dies und bitte Sie dafür um Entschuldigung. Trotzdem ist es un
|erlässlich, den Tatbestand zu klären. Was ich bei
aller Dankbarkeit, zu der ich Ihnen gegenüber verpflichtet bin, absolut nicht aus
der
Welt schaffen kann, ist: dass die zitierten Worte wirklich Ihrerseits gefallen sind,
also deren Anführung keineswegs, wie Sie die Sache dargestellt haben, auf einer
entstellend-erfinderischen Phantasietätigkeit meinerseits beruht. Für meine
Erinnerungen bin ich vor jedem Forum verantwortlich. Und ich erinnere mich, Sie haben
mit mir in jenem für Herrn
Grossmann
abträglichen Sinne gesprochen. Ich will Ihnen aber gern damit entgegenkommen, dass
ich – wie Herr
Kraus mir rät – ebenso wie ich
meine Behauptungen über Herrn
Grossmann nicht
aufrecht erhalte, auch die Ihren mit Bedauern zurückziehe.
Was Herrn
Kraus betrifft, dem ich leider erst
jetzt Ihren Brief gezeigt habe, fühle ich mich verpflichtet, das Folgende anzuführen:
Herr
Kraus hat von der Affäre zwar durch mich
gehört, sie aber nicht weitererzählt. Er äusserte, als ich ihm Ihren Brief zeigte,
die Annahme, dass er mit dieser Sache etwas zu tun habe, müssten sich
Grossmann und Schnitzler aus den Fingern
gesogen haben. Nichts vermöge ihn weniger zu interessieren, als ein Beweis, Herr
Grossmann habe seine direktoriale oder
kritische Gewalt Schauspielerinnen gegenüber missbraucht. Im Gegenteil könnte ihn
der
Nachweis, Herr
Grossmann habe auf erotischem
Wege ein Talent entdeckt, möglicherweise dazu bringen, an die Befähigung des Herrn
Grossmann, ein Theater zu leiten, fortan zu
glauben. Herr
Kraus erklärte ferner, dass ihn
ein Einzelfall von Korruption längst nicht mehr beschäftigen könne und tatsäch
|liche Feststellungen auf dem Gebiete der Theatermoral
stünden im stärksten Widerspruch zu Allem, was er je zur Psychologie der
Schauspielerin geschrieben habe und was ihn vom Freiwildstandpunkt in denkbar
weitester Ferne halte. Mir selbst riet er eindringlich und energisch ab, mich mit
einem Falle zu befassen, der entschieden so tief unter meinem wie unter seinem Niveau
sei und auf Wissenschaft und Erweis in solchen Dingen zu verzichten. Diese
Unterredung trug auch mit dazu bei, dass ich es sehr bedauerte und bedauere, den
Schauspielerklatsch aufgegriffen zu haben. Wiederholt erkläre ich dies für meine
Person, wiederholt muss ich feststellen, dass es Herrn
Kraus überaus peinlich berührt hat, durch rein passive
Beteiligung an einer Sache, die so tief unter seinen geistigen Interessen liege, mit
Kreisen zu Zusammenhang gebracht worden zu sein, die ihm, wie er sagt, äusserlich
und
innerlich ferne sind und bleiben sollen.
Mit diesen Richtigstellungen ist die Angelegenheit für mich erledigt.
Hochachtungsvoll:
[handschriftlich:] Dr Albert Ehrenstein
[maschinenschriftlich:] Wohlgeboren Herrn
Dr. Arthur
Schnitzler,
Wien.