Georg Brandes an Arthur Schnitzler, 16. 6. 1901

|Kopenhagen16 Juni 1901

Verehrter Freund

Zwar ist Krotkaja ein Monolog – es gibt so viele Monologe, Flauberts St. Antoine ist auch ein Monolog – aber das kleine Buch hat gar keine Form-Aehnlichkeit mit der Ihrigen. Les lauriers sont coupés las ich vor – 16 Jahren glaub ich, als die Erzählung in la Révue Indépendante stand, und es machte mir einen starken und originellen Eindruck, aber das Einzelne hab ich vergessen.
Ich kam zwar durch Wien, blieb aber |dort nur zwei Stunden. Ich hatte eine Scheu, Sie wieder aufzusuchen. Ich finde mich selbst sehr oft für Fremde ermüdend, fuhr deshalb nur durch; ich war bewegt, unaufgelegt zum Sprechen.
Durch Ihre Güte erhielt ich Renate Fuchs; es ist ein starkes Buch, aber die Grundidee so willkürlich, das Nachtwandern der Heldin. Das Beste sind die Details, scheint mir, die vielen tiefen Reflexionen. Im Ganzen jedoch Kunst = Kunst, nicht Kunst = Natur. Ist es nicht wahr? Aber der Mann hat sehr viel Talent.
|Hier haben wir scheussliches Wetter, fast Winter. Mitte Juli gehe ich nach Karlsbad, ich habe mit Georges Clemenceau verabredet, ihn dort zu treffen.
Von ganzem Herzen
Ihr
 Georg Brandes
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