Ferdinand von Saar an Arthur Schnitzler, 19. 6. 1901

|Wien-Döbling, 19/6. 1901.

Sehr verehrter Herr Doctor!

Ihre neuesten Bücher habe ich mit großer Aufmerksamkeit gelesen, habe sie in mir nachwirken lassen – und so gelange ich erst heute dazu, Ihnen für die so freundliche Übersendung zu danken. An beiden habe ich wieder Ihre bewährte Kraft der Seelenanalyse und Milieuschilderung bewundert. »Lieutenant Gustl« ist freilich mehr ein Virtuosenstück; hingegen erscheint aber »Frau Bertha Garlan« als ein umso echteres Kunstwerk. Man athmet die Luft der kleinen Landstadt und lebt die öden, gedrückten Verhältnisse mit, als befände man sich dort. Daher kommt es auch, dss man sich ungefähr in der Mitte des Buches fragt, ob diese Zustände so eingehender Behandlung auch wirklich werth seien – und man fängt an, ein bißchen ungeduldig zu werden. Aber die zweite Hälfte wirkt mit dem ergreifenden Schluß nach rückwärts wie ein mächtiger elektrischer Lichtstrom, der allein und vor allem der Heldin vollen Reiz und volle Bedeu|tung verleiht. Jeder Zug in diesem stillen, still verlangenden und eigentlich nichts erlebenden Frauenleben wird als nothwendig empfunden, prägt sich tief ein, und so wird »Frau Bertha Garlan« zu den Büchern gehören, die man niemals aus dem Gedächtnisse verliert. Man hat sie, wenn ich nicht irre, zu Madame Bovary in Beziehung bringen wollen. Höchst ungerechtfertigt! Denn es ist alles ganz anders. Die einzige Ähnlichkeit, die man aber an den Haaren herbeiziehen müßte, besteht darin: dss beide Romane in der Provinz spielen. Aber ssind die Menschen: sie können eben immer nur vergleichen!
Indem ich mich Ihnen mit wahrer Hochachtung empfehle, bin ich
Ihr alt ergebener
Ferdinand von Saar.
    Bildrechte © University Library, Cambridge