|Wien-Döbling,
19/6. 1901.
Sehr verehrter Herr Doctor!
Ihre neue
sten
Bücher
habe ich mit großer Aufmerk
samkeit gele
sen, habe
sie in mir nachwirken la
ssen – und
so gelange ich er
st heute dazu, Ihnen für die
so freundliche Über
sendung zu danken.
An beiden habe ich wieder Ihre bewährte Kraft der Seelenanaly
se und Milieu
schilderung
bewundert. »
Lieutenant Gustl« i
st freilich mehr
ein Virtuo
sen
stück; hingegen er
scheint aber »
Frau
Bertha Garlan« als ein um
so echteres Kun
stwerk. Man athmet die Luft der
kleinen Land
stadt und lebt die öden, gedrückten Verhältni
sse mit, als befände man
sich dort. Daher kommt es auch, d
ss man
sich ungefähr in der Mitte des
Buches fragt, ob die
se Zu
stände
so eingehender Behandlung auch wirklich werth
seien – und man fängt an, ein bißchen
ungeduldig zu werden. Aber die zweite Hälfte wirkt mit dem ergreifenden Schluß nach
rückwärts wie ein mächtiger elektri
scher Licht
strom, der allein und vor allem der
Heldin vollen Reiz und volle Bedeu
|tung verleiht. Jeder Zug in die
sem
stillen,
still verlangenden und eigentlich nichts erlebenden Frauenleben wird als
nothwendig empfunden, prägt
sich tief ein, und
so wird »
Frau Bertha Garlan« zu den Büchern gehören, die man niemals
aus dem Gedächtni
sse verliert. Man hat
sie, wenn ich nicht irre, zu
Madame Bovary in Beziehung
bringen wollen. Höch
st ungerechtfertigt! Denn es ist
alles
ganz anders. Die einzige Ähnlichkeit, die man aber an den Haaren herbeiziehen
müßte, be
steht darin: d
ss beide Romane in der Provinz
spielen. Aber
so
sind die
Men
schen:
sie können eben immer nur vergleichen!