Arthur Schnitzler an Georg Brandes, 3. 5. 1900

|Mein lieber und verehrter Herr Brandes,

schon vor einigen Tagen las ich in einer Zeitung, dass Sie sich wieder leidend befinden und in ein Sanatorium gegangen wären; aber nach dem ganzen Tun u auch nach der Schrift Ihres Briefes scheint mir, dass die Krankheit diesmal leichter auftritt als die ersten Male, und hoffentlich stehn Sie bald wieder auf und sind endlich ganz gesund. Es ist gewiss ein gutes Zeichen, wenn Recidive in abgeschwächter Form auftreten; |ich wünsche von Herzen, dass es das letzte ist. – Sehr bedauert hab ich dss ich in Abbazia Ihren Absagebrief fand nicht Sie selbst. Ich habe auf der dalmatinischen Reise meisschlechtes Wetter gehabt; nur in Ragusa zwei sonnige Tage; überdies gerieth ich anfangs in einen Balneologencongress, dessen Mitglieder Schiffe und Hotels füllten, von denen ich auch manche persönlich kannte, es war ziemlich unangenehm. Unter solchen Halb|bekannten sein ist die schlimmste Form – der Einsamkeit, nicht der Geselligkeit. Von Abbazia aus, wo es ununterbrochen regnete, flüchtete ich bald nach Hause. Das schönste was ich mitbrachte, ist die Erinnerung an die Trümmer von Salona, ich kann gar nicht verstehen, warum man da nicht immer und immer weitergräbt; die Erde wegkratzen und die Vergangenheit finden – wie kommt es, dss darüber noch keiner wahnsinnig |geworden ist? –
Auch die albernen Angriffe gegen Sie wegen Ihrer Budapester Einleitung habe ich gelesen. Es ist ja wirklich gar nicht ernsthaft darüber zu reden. Und doch scheint es, kann man die Empfindlichkeit gegenüber dem dümmsten, wenn es nur einmal gedruckt ist, nicht ganz verlieren. Ich erinnere mich, wie ich seinerzeit mit einigem Staunen im Briefwechsel von Goethe und Schiller Denkmäler ihres Aergers über die nichtigsten Scribenten antraf. Seither staune ich |aber nicht mehr, wenn ich sehe, wie sich zuweilen die Klügsten über die Thörichtesten ärgern. Die Philosophie hilft wohl gegen die Todesangst, aber nicht gegen Flohstiche.
Dass Sie auch mir für Wien danken, ist zu liebenswürdig; ich fühle, dass ich Ihnen, besonders diesmal, nicht viel sein konnte. Im Anfang waren diese langweiligen Zahngeschichten; und dann liegen die Schatten von jenem traurigen Ereignis oft, und nun gar in diesen Frühlingstagen schwer auf meiner Seele. Dazu kommen noch mancherlei zum |Theil nervöse Dinge (aber nur zum Theil), über die ich nicht gern rede, hauptsächlich ein quälendes Ohrensausen, an dem ich nun seit drei einhalb Jahren ununterbrochen leide, mit beginnender Verschlechterung des Gehörs – das macht mich natürlich auch nicht viel froher. Immerhin arbeite ich seit einiger Zeit mehr als je und mit einer Empfindung – wenigstens zuweilen – von innerer Fülle wie niemals früher. Ich bin jetzt daran eine Novelle zu dictiren, die vor ein paar Wochen beendet wurde, schreibe jetzt einige |kleinere und möchte im Sommer eine Komödie schreiben. Der Schleier der Beatrice wird wahrscheinlich im Herbst an der Burg aufgeführt; wo ich aber mit den neuen Sachen hin soll die ich im Kopf habe weiss ich nicht recht. Es wird nemlich kaum möglich sein in der nächsten Zeit etwas wienerisches zu schreiben, in das nicht die antisemitische Frage hineinspielt – und meine Art darüber zu denken wird weder den Christen noch den Juden recht sein. – Das neue Buch von Bour|get kenn ich nicht, habe schon lange nicht von ihm gelesen; auch das Reisewerk von Lanckoronsky ist mir noch unbekannt. Ich lese jetzt – denken Sie! zum ersten Mal – wenn ich von einer Jugendbearbeitung absehe – den Don Quixote; dann ein vorzügliches Buch über Dante von Federn, demselben, der den Emerson trefflich übersetzt hat. Gibbon begleitet mich bereits längere Zeit.
Seit das Wetter schön ist, radl ich auch manchmal aufs Land, und für den Sommer hab ich |größere Touren auf dem Rad vor. Vielleicht entschließen Sie sich einmal, in der heißen Zeit ins Gebirge zu gehen; ich habe mich schon darauf gefreut, einmal mit Ihnen im Freien zu sein, außerhalb von Stadt und Mauern herumzuspaziren. Vielleicht läßt es sich gar machen, dss Sie, Goldmann und Beer Hofmann u ich irgendwo zusammentreffen, fern von allen Zeitungen – und am Ende auch von aller »Literatur«. –
Jedenfalls hoff ich Sie sagen mir bald wieder ein Wort, wies Ihnen |geht. Es ist eine meiner wirklichen Freuden, dass Sie meiner mit Sympathie gedenken. Ich grüße Sie herzlich.
Ihr
Arthur Schnitzler
Wien, 3. 5. 900.
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