Ich habe letzten
Sonntag – heute vor 8 Tagen – Ihren
Roman in einem Zuge ausgele
sen, was mir bei einem
Manu
script
schon lange nicht pa
ssiert i
st, und darüber
sogar das Theater
ver
säumt, was mir noch nie pa
ssiert i
st. Die ganze Woche über kam ich nicht
dazu, Ihnen zu
schreiben, u. er
st heute vermag ich Ihnen mitzutheilen, daß ich
die Erzählung
nicht acceptiere.
Warum? Nicht mit Rück
sicht auf die Prüderie des Publikums, denn die paar Stellen,
die als bedenklich in Betracht kämen, ließen
sich leicht be
seitigen. Nein, aus
einem Grunde, den Sie von Ihrem Standpunkt aus gar nicht ver
stehen dürften: Der
Roman ist mir viel zu ern
st u. dü
ster,
mir, dem man be
ständig den Vorwurf macht, daß un
ser Roman-Feuilleton »viel zu
ern
st u. dü
ster«
sei. Berück
sichtigen Sie gefällig
st, daß ich nichts weiter bin
als ein Knecht und daß ich aus tief
ster
Knechts-Überzeugung ablehnen muß, un
ser Publikum mit einer
so wenig fröhlichen
und erbaulichen Erzählung,
schon in aller Frühe beim Morgenkaffee zu
ver
stimmen.
Al
so ich nehme Ihren
Roman nicht, und das i
st
wohl die Haupt
sache, für Sie, aber nicht für mich; denn ich muß Ihnen noch etwas
sagen, was an u. für
sich
sehr gleichgiltig i
st, Ihnen, aber nicht mir, nämlich
daß
|ich der Lektüre Ihrer
Erzählung eine große Freude verdanke, – nein, das i
st
[wohl] nicht das richtige Wort: eine zunehmende Aufregung, eine innige
Antheilnahme, eine
starke Er
schütterung. Es i
st eine glänzende Arbeit, mit der
Sie einen
schönen Erfolg haben werden, nicht in einer Zeitung,
sondern im Buche.
Ich würde mir an Ihrer Stelle er
st keine Mühe geben,
sie bei einer Redaction
einzureichen; wenn
ich sie nicht nehme, nimmt
sie Niemand;
soweit glaube ich den Gei
st der
deutschen u.
österreichischen Pre
sse zu kennen. Al
so im Buche u. ich wäre
glücklich, Ihnen, falls dies nötig wäre, in irgend einer Wei
se dabei behilflich
sein zu können. Und mit einem anderen Titel. »
Der
sterbende Herr« i
st gar nichts. Da mü
ssen Sie
schon etwas anderes
finden. Aber um auf die Qualität der Arbeit zurückzukommen: ich müßte außer
Landes gehen, um einen Vergleich zu finden. Erinnern Sie
sich des Todes des
Für
sten Andrej in »
Krieg und Frieden«? Das
hat ein
Dichter ge
schrieben, der kein Arzt
war. Ihren Roman hat ein Arzt ge
schrieben, der ein Dichter i
st. Es i
st die er
ste
zugleich kün
stleri
sche und wahrheitstreue Dar
stellung des Grundverhältni
sses
zwi
schen Tod u. Leben einer
seits u. der phy
si
schen Auflö
sung andrer
seits, die
ich kenne. Welche Fülle von Beobachtungen u. welche überzeugende Richtigkeit in
Auffa
ssung und Entwicklung zweier einfacher Men
schen
schick
sale! Ich
beglückwün
sche Sie aufrichtig zu die
ser Arbeit, mein
sehr verehrter Herr Doctor,
jetzt weiß ich ganz genau, wer Sie
sind, und jetzt bin ich der Er
ste, der für
Ihren Beruf mit Freuden Zeugniß ablegt.