Fedor Mamroth an Arthur Schnitzler, 5. 3. 1893

Redaction. Frankfurt a. M., 5. März 1893
Telegramm-Adresse:
Zeitung Frankfurt Main.

Mein sehr verehrter Herr Doctor!

Ich habe letzten Sonntag – heute vor 8 Tagen – Ihren Roman in einem Zuge ausgelesen, was mir bei einem Manuscript schon lange nicht passiert ist, und darüber sogar das Theater versäumt, was mir noch nie passiert ist. Die ganze Woche über kam ich nicht dazu, Ihnen zu schreiben, u. erst heute vermag ich Ihnen mitzutheilen, daß ich die Erzählung nicht acceptiere.
Warum? Nicht mit Rücksicht auf die Prüderie des Publikums, denn die paar Stellen, die als bedenklich in Betracht kämen, ließen sich leicht beseitigen. Nein, aus einem Grunde, den Sie von Ihrem Standpunkt aus gar nicht verstehen dürften: Der Roman ist mir viel zu ernst u. düster, mir, dem man beständig den Vorwurf macht, daß unser Roman-Feuilleton »viel zu ernst u. düster« sei. Berücksichtigen Sie gefälligst, daß ich nichts weiter bin als ein Knecht und daß ich aus tiefster Knechts-Überzeugung ablehnen muß, unser Publikum mit einer so wenig fröhlichen und erbaulichen Erzählung, schon in aller Frühe beim Morgenkaffee zu verstimmen.
Also ich nehme Ihren Roman nicht, und das ist wohl die Hauptsache, für Sie, aber nicht für mich; denn ich muß Ihnen noch etwas sagen, was an u. für sich sehr gleichgiltig ist, Ihnen, aber nicht mir, nämlich daß |ich der Lektüre Ihrer Erzählung eine große Freude verdanke, – nein, das ist wohl nicht das richtige Wort: eine zunehmende Aufregung, eine innige Antheilnahme, eine starke Erschütterung. Es ist eine glänzende Arbeit, mit der Sie einen schönen Erfolg haben werden, nicht in einer Zeitung, sondern im Buche. Ich würde mir an Ihrer Stelle erst keine Mühe geben, sie bei einer Redaction einzureichen; wenn ich sie nicht nehme, nimmt sie Niemand; soweit glaube ich den Geist der deutschen u. österreichischen Presse zu kennen. Also im Buche u. ich wäre glücklich, Ihnen, falls dies nötig wäre, in irgend einer Weise dabei behilflich sein zu können. Und mit einem anderen Titel. »Der sterbende Herr« ist gar nichts. Da müssen Sie schon etwas anderes finden. Aber um auf die Qualität der Arbeit zurückzukommen: ich müßte außer Landes gehen, um einen Vergleich zu finden. Erinnern Sie sich des Todes des Fürsten Andrej in »Krieg und Frieden«? Das hat ein Dichter geschrieben, der kein Arzt war. Ihren Roman hat ein Arzt geschrieben, der ein Dichter ist. Es ist die erste zugleich künstlerische und wahrheitstreue Darstellung des Grundverhältnisses zwischen Tod u. Leben einerseits u. der physischen Auflösung andrerseits, die ich kenne. Welche Fülle von Beobachtungen u. welche überzeugende Richtigkeit in Auffassung und Entwicklung zweier einfacher Menschenschicksale! Ich beglückwünsche Sie aufrichtig zu dieser Arbeit, mein sehr verehrter Herr Doctor, jetzt weiß ich ganz genau, wer Sie sind, und jetzt bin ich der Erste, der für Ihren Beruf mit Freuden Zeugniß ablegt.
Ihrergebener
FMamroth
    Bildrechte © University Library, Cambridge