Felix Salten an Arthur Schnitzler, 23. 5. 1897

|Wien, 23. Mai 97
Lieber Arthur! Unsere Briefe haben sich gekreuzt. Am Tage, nach welchem meiner abgesendet war, empfing ich den Ihrigen. Ich konnte nicht mehr erwarten, von Ihnen Nachricht zu erhalten, denn da Alle Anderen Briefe von Ihnen bekamen, musste ich denken, mein Schreiben Sei verloren gegangen.
Die gute Stimmung, in der ich kürzlich an Sie geschrieben, läßt nach. Vierzehn Tage Regenwetter liegen dazwischen, und der Frühling hat nun ein Ende. Ich fühle mich nach und nach wieder beschwert von allen Gewichten, die sonst immer mein Wesen drücken. Alle meine Wünsche concentriren sich nun darauf Etwas fertig zu bringen. Wenn das geschehen könnte, wäre ich wesentlich gefestigter. Aber Sie können sich nicht denken, wie sehr ich an dem Gefühl der Unwichtigkeit leide, sobald ich mir meine |Arbeiten fertig vorstelle und gedruckt und unter allen Anderem wirkend, was es in der Kunst gibt. Es ist das niederdrückendste Gefühl, und man ist wie gelähmt, wenn diese Empfindung Einem vorzurechnen beginnt, in wie vieler Beziehung man mit Allem, was man machen möchte und könnte, entbehrlich sei. Dass ich damit allein bleibe, ist mir oft schwer genug. Und ich bin jetzt ganz allein. Ich möchte das Einmal ganz klar aussprechen, damit ich später nicht mehr in Andeutungen darauf zurückkommen brauche. Ich möchte es umso eher, als ich es jetzt ohne die mindeste Bitterkeit thun kann u. meine sonstige starke Empfindlichkeit ungerechnet, über Empfindlichkeiten hinweg bin: Ich habe außer zu Ihnen, weder zu Hugo und noch viel weniger zu Beer-Hofmann Beziehungen irgend welcher Art. Sie suchen mich nicht und nirgends und ich sie nicht. |Bei der großen Schätzung, auf welcher mein Verkehr mit ihnen beruhte, war ich zunächst darauf hingewiesen, die Schuld an dieser Wandlung in mir allein zu suchen. Das hat mir manche, sehr verzagte Stunde verursacht. Jetzt bin ich mir über die inneren und äußeren Gründe, über die Art, in welcher diese Gründe mit dem Leben im Allgemeinen und mit den beteiligten Personen im Besonderen zusammenhängen vollständig klar, und deshalb spreche ich es – wie um der Ordnung willen – aus. Ich thue es übrigens auch, weil ich nicht weiß, ob nicht in ähnlicher oder anderer Weise diese Angelegenheit mit Ihnen besprochen wurde, und weil ich in Ihnen gewiss nicht das Gefühl erhalten wissen möchte, als hätten Sie mir etwas schonend zu verschweigen. Schließlich bitte ich Sie, zu glauben, dass ich durchaus keine gegentheiligen Versicherungen, auch keine Confidencen provoziren wollte. Nicht wahr, das glauben Sie mir?
|Mit meinen Arbeiten geht es mir merkwürdig. So vielerlei durcheinander, so viele neue Ausblicke durch alte Stoffe, so viele neue Pläne haben mich selten auf einmal beschäftigt. Und wenn das Gefühl der grossen Unwichtigkeit mich nicht hinderte, käme ich wol rascher vorwärts. Schließlich wird ja doch der Todesgedanke, der sich immer mehr und mehr meiner bemächtigt, seine Wirkung ausüben, und mich an ein Ziel führen. Ist es nicht sonderbar, dass ich an den Tod unabläßiger denn je, aber ohne Qual und ohne Angst, ja beinahe mit Neugierde denke? Ich bilde mir aus mehrfachen Gründen ein, dass ich mit fünfunddreißig Jahren an einem Märztag weggehen werde, und ich denke daran, wie an ein Unternehmen, dessen Zustandekommen zum Theil in meiner Macht liegt. Es ist nicht Selbstmord, warum sonst die fünfundreißig? Aber es ist so, als müsste ich in diesen |acht Jahren, die es bis dahin noch sind, alles erledigen, und als wäre ich dann eben à jour. Meine Gesundheit, – der alte Bronchialkatarrh, der ja doch einmal die Lunge angreifen muss, – meine Arbeiten, mein Lieben, alles scheint mir so, als könne es nicht länger vorhalten als bis zu jenem Märztag im Jahre 1905. Jedesfalls hängt meine Sorglosigkeit und der Glaube an eine Wendung der Dinge, die nun bald eintreten müsse, mit dieser Vorstellung zusammen, und ich habe wenigstens die Zuversicht davon, nicht einen Tag früher zu sterben.
Gestern erhielt ich von Frl. Sandrock einen wunderschönen Brief, so echt, wie ich noch nichts von ihr gehört: »Ich liege an der Ostsee und blicke mit meinen blauen Augen zum blauen Himmel empor,« so beginnt es, und es ist, als ob sie in ihrem gelösten Wesen mit diesen ironischen Worten eine directe Verbindung zwischen sich und der Welt gefunden hätte. Dann kommen Sätze: »Gestern trat ich hier auf, und heute liegt Riga in Fraisen.« Oder: »Was geht in Dir vor? gehe ich |Dir ab? (Ich habe sie zwei Monate nicht gesehen und nichts von ihr gehört) Fällst Du nicht todt vom Boden bei dem Gedanken mich bald wieder zu sehen?« ec. Schließlich läuft das Ganze auf die Bitte hinaus, ihre Triumphe in die Zeitung zu geben. – Der Bruder des Fräulein M. hat in Rußland anläßlich der Anwesenheit unseres Kaisers den Franz Josefs-Orden erhalten. Heute war er hier, im Smoking und schwarzer Binde, mit der Rosette im Knopfloch bei seiner Mutter zu Besuch. Gespräch: Thema: unsere Kaiserin. Ich: Sie lebt wunderschön, – so allein, von nichts bekümmert. Er: Sie könnte es noch schöner haben. Ich: Wieso denn? Er: Sie könnte Protektorin aller Wohltätigkeitsvereine sein! (Wörtlich)
Ich weiß wieder nicht, ob dieser Brief Sie in Paris noch trifft. Wenn Sie ihn erhalten, dann bitte zeigen Sie’s mir, wenn auch nur auf einer Postkarte, an.
Herzlich Ihr
Salten
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