Else Lasker-Schüler an Arthur Schnitzler, 10. 12. 1924

10. XII. 24 Berlin W Motztr. 78 

Hochzuverehrender Herr Doktor und lieber Dichter

Ich fühle es mit Bestimmtheit, daß ich diesen Brief nicht nur in den Wind schreibe. Wenn man wenigstens immer in den Wind schriebe, aber man schreibt ja nicht an kleinherzige Menschen. Es hat mir kein Mensch geraten an Sie, lieber Dichter, zu schreiben, es überkam mich, Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten, nämlich mit |meinem geliebten Kinde, meinem Sohn zu sprechen. Ich bin Else Lasker-Schüler; mein Junge wohnt in Wien VIII. Florianigasse 47/49 Stiege II. Thüre 25 in einem grossen Zimmer bei einer netten Wirtin. Wenn Sie ihm schreiben lassen, kommt er zur angegebenen Zeit, Herr Doktor. Ich möchte Ihnen so viel sagen; schon wie ich im Januar in Wien war. Ich bekam dort Scharlach und Diphteritie, saß dabei vier Wochen in Flanell gehüllt im Cafe Central am Fenster und ich glaube das herrliche Wiener Trinkwasser heilte mich. Ich habe in München jetzt Gelegenheit gehabt, meinen Paul zeichnerisch anzubringen |aber er liebt Wien so und bat mich doch dort bleiben zu können. Zunächst versuchte er mit einem Freund Plakate zu zeichnen für Geschäfte. Einen Monat ging das, aber nun ist grosser Stillstand. Nun möchte ich so gern, hochzuverehrender Herr Doktor, daß Sie mein liebes Kind kennen lernen; er ist der liebste kindlichste Junge, den ich fast kenne – im Grunde;– aber was man mir nicht antut – vielleicht aus Feigheit, – muß der arme Junge erleiden. Ich weiß wie unerhört er in Wien angeschwärzt wurde; niemand spricht von seiner Bescheidenheit, auch in künstlerischen Dingen. |Darum wird er sich alleine nie durchsetzen, ich meine – weiterkommen – äußerlich – was doch hier sein muss. Er giebt sich Mühe, aber es gelingt ihm nicht und ich tue ja alles was in meiner Kraft liegt. Danach muß er stets genug zu essen und Anzuziehen haben und wenn er nicht charmant seinen Besuch bei Ihnen machen sollte, so kann ich nichts dafür. Wirklich es leben nicht zwei Menschen mehr, die verfolgter sind wie wir zwei, mein Junge und ich. Herr Doktor, ich bitte Sie herzlich als Mensch und als Dichterin, (und nie werde ich es Ihnen vergessen) meinen Jungen einmal einzuladen. Wedekind war direkt begeistert von ihm in Zürich und Prof. Einstein fand ihn prachtvoll. |Vielleicht können Sie ihm raten, wohin er sich wenden soll, Ihr Wort in Wien gilt ja. Was kann ich für Sie je tun? Kommen Sie bald nach Berlin? Sehe ich Sie? Denken Sie, ich kenne nur ein Schauspiel von Ihnen; ich gehe so selten ins Theater, so erschöpft bin ich am Abend. Ich bitte Sie mir die Freude zu machen, Herr Doktor, und es wäre so schön mein Junge und seine Freunde würden mal wo eingeladen in Familie, alle drei, entzückende Bengels. Als wir noch in Berlin waren, gingen wir oft zusammen ins Kino, mein Sanatorium. Ich grüße Sie, hochwerter lieber Dichter, Ihre
Else Lasker-Schüler
 
der Prinz von Theben Mondsichel mit Stern
Was kann ich je für Sie tun?
|Motzstr. 78 Berlin W.
Hôtel Koschel
Segelschiff auf Wasser
mit lieben Grüßen