|18. December.
Mein lieber Freund,
Ich glaube, ich empfinde mehr Reue als Schmerz. Das i
st ein furchtbares Gefühl. Das
arn arme
Mädel i
st
symboli
sch für meine ver
säumte Jugend. Ein
Anderer hätte im
stolzen Kraftbewußt
sein
sich mit die
ser
schönen
Blume ge
schmückt und ihren Duft geno
ssen. Ich
habe
schwächlich genörgelt und gezweifelt. Liebt
sie mich? Lügt
sie nicht? Das war
nicht das Grübeln der Denker-Natur,
sondern, wie ge
sagt, Schwäche, mangelnde
Be
sitzergreifungs-Kraft. Es war in ihr zu Anfang gewiß eine kleine Flamme. Aber
sie
i
st
|ra
sch verlö
scht, weil ich mich in meine Schale
zurückzog und nicht glauben wollte. Es hätten herrliche Tage werden können und
Sonnen
schein für ein ganzes Leben. Statt de
ssen wurde es nur, wie Alles in meinem
Leben, ein ver
säumtes Glück, ein nicht zu Ende gelebtes Erlebniß. Seit Jahren plagt
mich die Reue darüber. Und es i
st
so eigenthümlich für meinen jetzigen Seelenzu
stand,
daß mich auf einmal die Ang
st befällt, wo ich in die Dreißig komme, die Ang
st, daß
ich
d meine Jugend nicht geno
ssen, daß ich herrliche Gelegenheiten ver
säumt habe.
Ich will al
so ra
sch nachholen. So denke ich
seit vorigem Sommer daran, mich in den
Ferien
|mit dem
Mädel zu treffen oder gar
sie nach
Paris kommen zu la
ssen, wo ihr Platz wäre. Ich will ihr
schreiben und ver
säume es
natürlich, wie ich Alles ver
säume. Nun kommt an einem grauen Morgen die
se Nachricht.
Das heißt für mich viel mehr, als Du ahnen kann
st. Nicht blos ein armes liebes
Ding i
st todt, das mir Gutes
gethan –
sondern: »Die Jugend i
st vorbei, unwiderruflich vorbei. Man lebt nicht
wieder, was man einmal zu leben unterla
ssen.«
Ich habe merkwürdig oft an
sie gedacht. Nicht etwa die
se dumme romanti
sche Ge
schichte
von der hinterdrein kommenden Liebe. Aber
n es war
die Überzeugung, daß
sie ein
selten kö
stliches
Menschenkind gewe
sen
|und daß ich
sie hätte
heut noch wenn auch vielleicht nicht lieben,
so
doch genießen können. Das i
st übrigens bei mir das
selbe. Ich kann nicht lieben, nur
genießen. Ich bin
seitdem
stärker geworden; ich war für
sie gereift; nun hätte ich
sie mir holen mögen. Einer meiner Lieblings-Träume war: »Reich, und eine Rei
se nach
Italien mit ihr.«
Ich habe ihre Briefe wieder gelesen und gierig nach Spuren von Falschheit, Pose,
Hysterie gesucht. Das wäre Balsam gewesen für meine Reue. Ich glaube auch, daß sie
mich nicht geliebt hat. Aber ich glaube auch, daß das meine Schuld war. Und neben
den
|schlimmen Spuren habe ich doch viel einsache
Güte, Herzigkeit und Poesie gefunden. Ich glaube beinahe: sie ist die einzige Frau
gewesen, die mich ver verstanden hat. Das nagt, das nagt. Oh ich blöder Thor!
Ich glaube auch,
sie hat
sich an mich anlehnen wollen, um das Kün
stleri
sche in ihr
zur Entwickelung zu bringen. Ich habe
sie wegge
stoßen. Nicht einmal ge
schrieben habe
ich ihr. Und das Nicht-Schreiben war eine Heuchelei. Denn, wie ge
sagt, ich dachte
viel an
sie. Vielleicht, wenn
sie mich um
sich gewußt hätte, wäre
sie nicht in den
Wald
|gegangen,
sich er
schießen. Ich hätte, ihr laut
zurufen mü
ssen, was ich all’ die Jahre dachte: »Kommen Sie nach
Paris!« Ich glaube beinahe, ich habe eine Verantwortung daran, daß die
se kö
stliche
Menschenblume verkümmert
i
st. Meine einzige Genugthuung wäre, wenn ich wüßte, daß
sie mich verge
ssen hat. Aber
wie das erfahren?
Denk’ nur, dieser Tod. Wie stolz, wie heldenmüthig! Er sagt: »Sie
war eine edle Frau. Du hast es nicht verstanden. Zu spät.«
Ich sehe mich mit ihr bei Dir, in Deinem lieben |Zimmer. Es ist unfaßbar, daß das Alles verloren ist. Schatten und Reue. Das »Zu spät« brennt wie Feuer auf dem Herzen.
Könnte
st Du nicht noch etwas über
ihr Leben erfahren? Ich möchte hören, daß
sie liederlich gewe
sen i
st, daß
sie banal geworden i
st. Auch möchte ich wi
ssen,
× warum
sie ge
storben i
st. Liebe zum
Vater? Ich glaube nicht. Sie hat einen kleinen dummen
Lieutenaut zum
Bräutigam gehabt und ihn
sehr
geliebt. Der mag ihr auf ihre »Unmoral« gekommen
sein und
sie wegge
stoßen
|haben. Dann
starb der
Vater.
Nun kam die unendliche Verein
samung über
sie, vielleicht auch die Noth. Darum hat
sies gethan.
Wenn es einen gnädigen Gott gäbe, hätte ich an jenem Tage im
Preßburger Walde
sein mü
ssen. Wie ich
sie ins Leben
zurückgetragen hätte auf meinen Armen!
Nun kommen mir die Thränen.
Siehst Du nun, wie verfehlt mein Leben ist?
Grüß’ Dich Gott, theurer Freund!
Dein
Paul Goldmann